Gewalt gegen Gewalt gegen Gewalt?

Friedrich Müller-Reißmann, ein lieber Freund, der nach einem Schlaganfall zwar nur noch einen Arm bewegen kann, aber mit unverminderter Hellhörigkeit für die Misstöne unserer Zeit weiterhin gegen geistige Trägheit und Unwissenheit schreibt, antwortet auf einen Brief von MarieLuise Beck (Abgeordnete für die Grünen im Deutschen Bundestag), in welchem diese sich ausdrücklich zur Anwendung von Gewalt bekennt, nachdem sie früher irrtümlich eine Pazifistin gewesen sei.

 

Friedrich Müller- Reißmann

friedrich.mr@gmx.de                         29.8.2013

Pflegeheim St. Jakob

Lortzingstr. 1

02763 Zittau

 

29.8.2013

Sehr geehrte Frau Beck,

 

ein Freund hat mit Ihren Text „Weshalb ich keine Pazifistin bin“ zugeschickt und ich habe versucht, ihn nachzuvollziehen, was mir streckenweise gelang. Ich stimme Ihnen voll zu, dass Gewalttaten, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Grausamkeiten, Folter und Vergewaltigungen mit aller Schärfe verurteilt und politisch konsequent bekämpft werden müssen, unabhängig davon, von wem sie begangen werden. Blinde Flecken aus ideologischen Gründen sind ein Unding und eine der Ursachen dafür, dass der Protest gegen die Untaten so oft unwirksam verhallt. Es ist nicht besonders glaubwürdig, wenn man z.B. die schmutzigen Machenschaften des „amerikanischen Imperialismus“ immer wieder vehement anprangert und die Verbrechen von denen, denen man sich ideologisch verbunden fühlt, geflissentlich übersieht. Neben der verbreiteten Haltung, die die Menschheitsgeschichte seit Anbeginn durchzieht, das Unrecht, das Verbrechen, das „Böse“ immer bei den anderen, in der fremden Gruppe zu suchen und die Untaten der eigenen Gruppe oder bei den Verbündeten zu übersehen, zu relativieren und umzudeuten, gibt es vereinzelt in der jüngsten Geschichte in Deutschland auch das Gegenteil, nämlich, dass man im Bannkreis des Übermaßes deutscher Schuld und eines christlich-protestantischen Sündenbewusstseins nur noch eine „Moral der Selbstanklage“ für moralisch hält und so selbstkritisch wird, dass man es nicht mehr wagt, die Verbrechen anderer Nationen, Religionen, Kulturen, z.B. von Islamisten oder Zionisten, beim Namen zu nennen. Auch das ist eine, wenngleich sympathischere, Form ideologischer Voreingenommenheit, die überwunden werden muss, wenn der politischen Kampf in der Welt gegen Unmenschlichkeiten wirksamer werden soll. Ich denke, in dem allen sind wir uns einig.

Nur, das alles hat überhaupt nichts mit Ihrer Grundfrage zu tun, ob es richtig und erfolgversprechend ist, gegen Gewalttäter mit militärischer Gewalt vorzugehen.

 

Sie bauen m.E. angesichts der mörderischen Untaten in der Welt eine falsche Alternative auf: entweder wegschauen, verdrängen, schweigen und bestenfalls den Opfern Verbandsmaterial schicken oder mit militärischen Mitteln dagegen vorgehen. Das ganze riesige Feld der möglichen und notwendigen politischen Handlungsmöglichkeiten – von der Unterbindung der Geschäfte mit Waffen bei uns, die wir uns doch zu den humanitären Staaten zählen, die sich angeblich zum Eingreifen gegen die Barbarei in anderen Ländern getrieben fühlen, bis hin zur Schaffung einer gerechteren, weniger ausbeuterischen Weltwirtschaftsordnung – bleibt ausgeklammert.

Es hat mich nicht verwundert, dass Ihre Argumentation auch das scheinbar unschlagbare „Kronargument“ enthält, das immer kommt, wenn die Grenzen des Pazifismus aufgezeigt werden sollen: die Beseitigung der faschistischen bzw. nationalsozialistischen Barbarei durch die Alliierten im 2.Weltkrieg. Doch der Vergleich hinkt und sagt herzlich wenig aus zu dem Problem, um das es hier geht. Keiner derjenigen, die nach dem Krieg durchaus zu Recht als Befreier gefeiert wurden, hat sich auf diesen Krieg allein deshalb eingelassen, um die Menschheit von einer Barbarei zu befreien. Stalin hat sogar anfänglich mit ihr gemeinsame Sache gemacht, um sich die Hälfte Polens einzuverleiben. Und gegen Ende des Krieges, hat er seine vorrückende Rote Armee vor Warschau halten lassen, damit SS und Wehrmacht den Warschauer Aufstand ungestört brutal niederschlagen konnten. Und auch für die großen westlichen Demokratien, einschließlich Amerika, war das nicht der entscheidende Grund, warum sie diesen Krieg geführt haben. Der Krieg wurde ihnen von Hitlerdeutschland durch Angriff, Überfall, Einmarsch aufgezwungen. Schon deshalb ist dieser Krieg kaum aussagefähig, wenn man vor der Frage steht, ob man Gewalttätern mit militärischer Gewalt begegnen soll. Und dann ist durch diesen Krieg insgesamt alles andere als eine friedliche Welt entstanden, vielmehr hat er die Grundlage für ein gigantisches Wettrüsten zwischen Ost und West gelegt, und dass dieses nicht zur Vernichtung der Menschheit geführt hat, ist am allerwenigsten einer Mentalität zu verdanken, die an die Problemlösung mit Mitteln der Gewalt glaubt (und sei es nur als „ultima ratio“). Ich will damit nicht ausschließen, dass es nach einem Krieg dank „göttlicher Gnade“ und weisen Entscheidungen von Verantwortlichen, vor allem durch Verzicht auf Rache, de facto zu einer längeren Friedensperiode kommen kann. Aber Kriege in der Intention in Szene zu setzen, die Welt friedlicher und gewaltfreier zu machen, ist illusionär und in sich widersinnig und gefährlich.

Und wenn man schon mit Hitler argumentiert, sollte man nicht vergessen, dass er nie und nimmer an die Macht gekommen wäre, wenn nicht die Politikergeneration vor ihm geglaubt hätten, man könne gesellschaftliche Probleme militärisch lösen, den 1. Weltkrieg ausgelöst und so viel Leid, Verbitterung und Hass über die Menschen gebracht hätten. Und jene grausamen Untaten, vor denen wir heute erschüttert stehen, sind auch nicht „vom Himmel gefallen“, sondern haben ihre Ursachen. Ja, nun setzt unweigerlich der „Realismusreflex“ ein, der uns sagt, dass die Untaten leider nun mal heute real passieren und dass Ursachenanalyse den Menschen, die heute in Foltergefängnissen eingesperrt sind, und den Frauen, die heute vergewaltigt und gedemütigt werden, nicht helfen. Man müsse eine Antwort finden, die jetzt greift und leidende Menschen jetzt oder wenigstens möglichst schnell aus der Gewalt ihrer Peiniger befreit. Dem kann jeder Mensch mit auch nur einem Funken Empathie nur zustimmen, wenn, ja, wenn es eine solche Antwort gäbe! Wenn militärische Gewalt das Problem lösen könnte! Aber um ein Bild zu gebrauchen: die Peiniger haben ihre Behausungen inmitten des Gefängnisses, und das Gefängnis liegt mitten in der Stadt. Wie will man da den Peinigern ihr Handwerk mit Bomben und Raketen legen?

Die ethisch motivierten Befürworter militärischer Gewalt gegen Gewalttäter scheinen zudem zu glauben, wenn man den „richtig Bösen“ das Handwerk legt, würde die Welt besser. Doch das Handwerklegen geht eben nicht so einfach, denn die „richtig Bösen“ verstecken sich hinter Schutzschirmen aus ganz normalen, nicht selten aus besonders unschuldigen Menschen, Frauen und Kindern. Keiner der Befürworter militärischer Gewalt wird leugnen, dass so neues Leid entsteht, aus dem neuer Hass erwächst und dass durch Gewalt der Nährboden für Gewalt nicht abgebaut, sondern vermehrt wird. Aber irgendwie scheinen sie zu hoffen, dass die neue Gewalt, die neuen Verbrechen die als „Nebeneffekt“ ihres doch so edel motivierten Krieges gegen Mörder, Fanatiker, Vergewaltiger, Terroristen usw. leider Gottes entstehen, nicht so schlimm sein werden wie die jener „richtig Bösen“, denen man das Handwerk gelegt hat. Doch eine solche Hoffnung ist reines Wunschdenken.

Doch ganz davon abgesehen, stellt sich doch die Frage, ob jemals irgendwo humanitäre Motivation zum Krieg geführt hat. Humanitäre Gründe wurden immer nur vorgeschützt, um Kriege, die aus ganz anderen Gründen geführt wurden, zumeist Gründen der Machterhaltung und -erweiterung, in einem schöneren Licht erscheinen zu lassen und die Skrupel der Zögernden und Skeptischen niederzuschlagen. Ist insofern nicht die ganze Diskussion um den Pazifismus reine Spiegelfechterei und Nabelschau einiger weniger moralisch Übersensibler? Ich sage ehrlich, dass ich von dieser Art aufgeschreckter Moralität wenig halte. Es ist unfruchtbar und irreführend, nur auf die Untaten der Extremisten in den aus den Fugen geratenen Verlierergesellschaften zu starren und das Unrecht unserer wohlgeordneten Gewinnergesellschaft auszublenden. Ist es Humanismus, mit ergreifenden Worten die extremistischen Untaten zu beklagen und so an dem moralischen Mäntelchen mitzustricken für diejenigen, die aus welchen Gründen auch immer Krieg führen wollen? Es wäre aus meiner Sicht Humanismus, erstens seine Rationalität zu erweitern und nach dem Unrecht zu fragen, aus dem die Untaten erwachsen, und sich zweitens für den gewaltfreien Widerstand gegen das Unrecht überall in der Welt und vor allem hier bei uns stark zu machen. Humanismus hat für mich stets diese beiden Komponenten, eine geistige und eine praktische. In Bezug auf das Leid in der Welt sind es Mitgefühl und tätige Hilfe, in Bezug auf das „Böse“ in der Welt sind es ein wacher umfassend fragender Geist sowie mutiges und phantasievolles politisches Handeln bis hin zu Verweigerung und zivilem Ungehorsam, aber niemals Gewalt.

 

Mit freundlichen Grüßen