FRIEDEN!

Wie immer nach Beseitigung einer großen, in diesem Fall sogar einer das Überleben der Menschheit existentiell bedrohenden Gefahr, hat der 1989 erfolgte Zusammenbruch der Sowjetunion die Zeitgenossen von einem Alptraum befreit und die Hoffnung auf eine kommende Zeit erweckt, die grundsätzlich anders und besser sein würde. Ein polyzentrisches System würde die bipolare Welt von gestern ablösen. Statt zweier in äußerster ideologischer wie militärischer Kampfbereitschaft gegeneinander verschworener Systeme würden von nun an Hundert Blumen auf einmal blühen, alle von ihnen mit dem Versprechen, im Hinblick auf unterschiedliche soziale Entwürfe, kulturelle Eigenarten und geistige Ziele der menschlichen Vielfalt in weit höherem Maße als vorher gerecht zu werden. Die Enge einer Konfrontation, die aus dem kalten jederzeit in einen heißen Krieg umschlagen konnte, würde der Weite des Multikulturellen, Multipolitischen und Multisozialen weichen.

Die ersten zehn Jahre nach dem Kollaps des Ostens schienen solchen Erwartungen Recht zu geben. Aber schon mit Beginn des 21. Jahrhunderts begann sich die globale politische Landschaft deutlich und in immer schnellerem Tempo zu wandeln. Zunächst löste die Islamophobie, angeheizt durch den Angriff auf das World Trade Center, den früheren Hass auf die Kommunisten ab, danach blieb es aufmerksamen Beobachtern kaum mehr verborgen, dass die globale Kontrolle nicht etwa nachließ, sondern sich im Gegenteil noch verschärfte. Die Vereinigten Staaten als weit überlegene Militär- und immer noch führende Wirtschaftsmacht übten in allen Bereichen klassischer und moderner Herrschaftsformen einen zunehmenden Druck auf alle übrigen Staaten aus. Der Verkauf von Ramschpapieren an schlecht beratene Banken überall auf der Welt, mit denen führende US-amerikanische Geldhäuser fremdes Geld in die eigenen Kassen lenkten, hätte fast einen globalen Kollaps bewirkt. Die Kriege, mit denen die Vereinigten Staaten den Nahen Osten überzogen und die sie bis heute weiterführen, waren ebenfalls direkte Machtdemonstrationen. An die Stelle von Diktaturen, unter denen die Mehrheit immerhin ein gesichertes Leben führte, haben diese Übergriffe ein alle Hoffnung zerstörendes Chaos gepflanzt, in dem niemand seines Lebens mehr sicher ist. So wie ein halbes Jahrhundert zuvor die Bombardierung des friedlichen Kambodscha die Mordbanden der roten Khmer hervorgebracht hatte, ist der Zerstörung des Irak das Aufkommen einer der blutrünstigsten Bewegungen des Islam, der ISIS, geschuldet.

Spätestens seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts sind die USA überall gegenwärtig, selbst in unsere Wohnzimmern haben sie sich schon eingeschlichen. Mit einem weltweit operierenden System der Bespitzelung greifen sie unmittelbar in wirtschaftliches Geschehen ein, da sie diesbezügliches Wissen zum eigenen Vorteil anzapfen, andererseits wird diese Ausspähung politisch genutzt, um Absichten und Einstellung von Freund und Feind zu erkunden. Zwar gefährdet die National Security Agency ‚NSA’ den Normalbürger weit weniger als etwa die heute allgemein übliche Aushorchung durch private Betriebe, aber eine akute, die Demokratie bedrohende Gefahr ist damit jedenfalls für alle Geheimnisträger verbunden: Journalisten, Richter, Anwälte, Politiker (bis hin zu Frau Merkel). Auf die öffentliche Meinung wirken die USA ebenso unmittelbar ein, z.B. über ihre global agierenden Konzerne. Ein Unternehmen wie Google kann mühelos politisch korrekte Leute im Rang aufsteigen, unbequeme oder kritische Leute ebenso im Rang absinken lassen. So wurden etwa von Anfang an alle Interneteintragungen einer Person von dieser Suchmaschine mit einem (willkürlich gewählten) Faktor multipliziert, so dass statt der, sagen wir tausend, realen Eintragungen zwanzigtausend tatsächlich aufscheinen. Will man einer Person und ihren Ansichten die Verbreitung sichern, dann wird dieser Faktor von Google erhöht, im gegenteiligen Fall wird er herabgesetzt. Auf diese Weise verfügen die USA über einen verlässlichen Hebel, um gut oder böse nach ihren Vorstellungen zu lenken.

Nicht weniger wichtig als Instrument der Aushebelung demokratischer Selbstbestimmung ist der mit aller Macht von den USA betriebene Vorstoß, die großen privaten Unternehmen gegenüber dem Staat zu stärken und damit das Volk als demokratischen Souverän zu schwächen. Das ‚Transatlantische Freihandelsabkommen’ dient diesem Zweck weit mehr als nur dem nach außen proklamierten (unter entsprechenden Umständen durchaus wünschbaren) Ziel, Handelshemmnisse abzubauen.

Aus dem zuvor Gesagten wird ein voreiliger Leser vermutlich den Schluss ableiten, dass der Autor wie viele andere deutsche Intellektuelle die in Mitteleuropa vorherrschende antiamerikanische Einstellung teilt, wonach es die Vereinigten Staaten sind, die nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Lagers die Hoffnungen auf eine kommende friedliche Zeit verraten hätten. Statt dass wir der alten Welt entgehen, in der zwei Supermächte die von ihnen mehr oder weniger abhängigen kleinen Mächte überwachten und drangsalierten; statt dass wir eine multipolare Welt der größeren Freiheit und Vielfalt betreten, hätten sie uns wieder in die alte Welt zurückgestoßen. Die großen Mächte spionieren heute noch weit mehr als zur Zeit des kalten Krieges, und zwar die USA mehr als ihre Rivalen China und Russland, weil sie diesen in der Kommunikationstechnik immer noch überlegen sind. Alle Großmächte und selbst einige kleinere Mächte rüsten zudem im Eiltempo auf, auch nuklear, sofern sie die Macht dazu haben. Russland lässt keine Gelegenheit aus, den Westen davor zu warnen, dass es sein in den letzten Jahren erweitertes und modernisiertes Atom-Arsenal im Notfall auch einzusetzen bereit sei. China aber stürmt bei der Entwicklung sämtlicher Instrumente des Todes besonders schnell voran, wobei es  – einer uralten Gepflogenheit folgend immer salbungsvoll von der Erhaltung des Friedens spricht, dem diese Waffen angeblich dienen. Aufrüstung und technische Innovation verlaufen derart rasant in China, dass die Amerikaner in dem fernöstlichen Riesen die ernsthafteste Bedrohung für ihre bisherige Vormachtstellung erblicken.

Nein, ich sehe in dieser Entwicklung keinen Verrat durch die USA oder eine andere Großmacht, sondern in unseren damaligen Hoffnungen eine voreilige, historisch völlig unbegründete Illusion. Zunächst ist es eines der wenigen Gesetze, welche uns die Geschichte lehrt, dass kleinere politische Einheiten mit der Zeit zu größeren zusammenwuchsen. Aus vereinzelten Horden wurden Stämme, aus Dörfern Städte, aus Kleinstaaten Reiche etc. Die Entwicklung von einer multi- über eine oligo- bis zu einer monopolaren Welt ist uns durch die Geschichte vorgezeichnet. In diesem Prozess bedeutet das 21. Jahrhundert nicht weniger als die entscheidende Zäsur. Schon seit dem zwanzigsten Jahrhundert ist eine multipolare Welt nicht länger möglich. Im Gegenteil steuert der Globus in schnellem Tempo auf eine monopolare Ordnung zu; und dafür gibt es einen zwingenden Grund – man könnte auch von einem Verhängnis sprechen, das durch nichts und niemanden aufzuheben oder in seiner Wirkung zu hemmen ist: die moderne Technik, denn Technik war es auch in der ganzen bisherigen Geschichte, welche den Prozess der Verschmelzung von kleineren zu immer größeren Einheiten ermöglichte und vorantrieb.

Auf Technik kann die Menschheit nicht mehr verzichten; sie ist ja einerseits eine gewaltige lebensfördernde Macht. Auch wenn es immer noch Nostalgiker gibt, die das wahre Glück des Menschen in einer Zeit ohne Handy, Computer und Antibiotika verorten, so ist doch eines sicher: Sieben Milliarden Menschen überleben einzig deshalb, weil eine lebensfördernde Technik dieser gewaltigen Zahl das Überleben ermöglicht. Das ist der positive Aspekt von Technik und Wissenschaft, der uns nur zu leicht dazu verführt, ihre zweite noch viel tiefer reichende Wirkung zu übersehen. Diese tiefe und unheilvolle Wirkung besteht in der radikalen Umgestaltung unseres gesamten sozialen, ökonomischen und politischen Lebens. In dem Augenblick, wo jeder kleine und unbedeutende Staat auf seinem Territorium Tausende von Fabriken beherbergt, die – ohne, dass man es ihnen von außen ansehen kann – zur Herstellung von Waffen bis hin zu Massenvernichtungswaffen dienen können; wo jeder Staat also technisch in der Lage ist, das Leben von Nachbarstaaten elementar zu gefährden, wird Spionage zu einem Imperativ der Selbsterhaltung, dem sich kein Staat auf die Dauer zu entziehen vermag, wenn er sich nicht freiwillig in die Rolle als potentielles Opfers begibt.

Bis ins 19. Jahrhundert wetteiferten feindliche Mächte darin, Agenten an die Regierungssitze ihrer Gegner zu schleusen, um deren Intentionen rechtzeitig auszuforschen. Ein Teil der heutigen Spionage dient immer noch diesem Zweck, so wenn Frau Merkels Handy abgehört wird oder wenn die NSA potentielle Terroristen systematisch überwacht. Doch der weit größere Teil der modernen Bespitzelung ist auf Wissenschaft und Technik gerichtet, denn dort werden jene Kampfmittel erdacht und verwirklicht, auf denen heute alle wirtschaftliche und militärische Stärke beruht und die das Machtgefüge nach ein oder zwei Jahrzehnten grundlegend verändern, im Falle eines Durchbruchs in den verschiedenen Sparten der Waffentechnik sogar kurzfristig den Aufstieg eines Schwellenstaates zur Supermacht oder umgekehrt den Abstieg eines ehemaligen Superstaats zu einer drittrangigen Nation herbeiführen können.

Dieser Prozess einer rasanten und weltweiten Akkumulation menschlichen Wissens und Könnens und die damit sozusagen mechanisch bewirkten Machtverschiebungen und Machtansprüche lassen die Potentaten einzelner Staaten zu Marionetten schrumpfen. Barack Obama, Xi Jin Ping und Wladimir Putin mögen sich als Persönlichkeiten noch so sehr voneinander unterscheiden – der geschulte Geheimdienstler Putin, der oppositionelles Denken im eigenen Land so brutal niederknüppelt, beherrscht die Kunst der Lüge zum Beispiel weit besser als sein ihm intellektuell eher überlegener Kollege Barack Obama, während Xi Jin Ping bei seinen Auftritten fast an einen weisen Guru oder milden Propheten erinnert. Wer würde glauben, dass Xi die Spitze eines Regimes einnimmt, das mit seinen Gegnern überaus unsanft verfährt? Doch diese Unterschiede sind letztlich unbedeutend. Die Gesichter der Staatshäupter sagen nichts über die Politik einer Großmacht aus. Sie sind bloße Aushängeschilder, die der Beschwichtigung nach innen und der Werbung nach außen dienen. Unabhängig davon ob sie nun G.W. Bush oder Obama heißen, Gorbatschow oder Putin: Die eigene Verfügung über Technik in ihrer lebensfeindlichen Gestalt und die davon ausgehende Bedrohung von Seiten realer oder eingebildeter Gegner zwingt ihnen ein Handeln auf, das man traditionell als ‚Staatsräson’ bezeichnet. Selbst Gorbatschow hat die Abrüstung nur bis zu einem bestimmten Punkt betreiben können, nämlich gerade soweit, dass ein russischer Zweitschlag immer noch die ganze übrige Welt in Schutt und Asche legt.

Warum an eine radikale Abrüstung selbst unter einem so ehrlich um den Frieden bemühten Mann wie Michail Gorbatschow nicht zu denken war, liegt auf der Hand. Keiner der Verhandelnden kann sich absolut sicher sein, dass der Gegner es ebenfalls ehrlich meint. Irrt sich der Nachgiebige, dann genügt eine einzige verheimlichte Wasserstoffbombe, um den Feind zum Herrn über Leben und Tod zu machen.

Selbst die lebensfördernde Technik wird zur Bedrohung, wenn einige Staaten darin eine Überlegenheit gewinnen, die andere Staaten in die wirtschaftliche Abhängigkeit zwingt. Weltweit ist das mit vielen Nationen geschehen, die nur noch als ausgebeutete Rohstofflieferanten für die erfolgreichen Produzenten begehrter technischer Produkte dienen. Kein Wunder, dass alle, die es sich leisten können, Spionage betreiben. Alle legalen und viele illegale Wege werden beschritten, um möglichst aufzuholen und, wenn es geht, zu überholen. Das ist dann die ökonomische Basis, um darauf Technik in ihrer lebensfeindlichen Gestalt aufzubauen: von Bomben bis Biowaffen.

Aufgrund dieses globalen Wettrennens um die größere ökonomische und militärische Macht wird Technik seit einem halben Jahrhundert und zum ersten Mal in der Geschichte des Menschen zu einer Bedrohung der Spezies. Neuartig ist dabei, dass diese existentielle Bedrohung in einer multipolaren Welt von überall kommen kann. Gleichgültig, wo eine nuklear bestückte Langstreckenrakete gezündet wird, in Nordkorea, Israel, Indien, Russland, China, dem Iran oder den USA – die Wirkung ist in allen Fällen dieselbe. Aufgrund dessen, was man beschönigend als Fortschritt bezeichnet, ist die Welt in eine Phase eingetreten, wo potentiell jeder Punkt des Globus zum Ausgangspunkt für die Zerstörung nicht nur jeden anderen Punktes, sondern der ganzen Welt werden kann, und zwar zu Lande von mobilen Raketenbasen, zu Wasser von U-Booten, in der Luft von Langstreckenbombern, in noch größerer Höhe von Kampfsatelliten. Darin besteht die unmittelbare und unausweichliche Wirkung des technischen Fortschritts in einer multipolaren Welt.

Und diese elementare Bedrohung wächst natürlich mit der Zahl konkurrierender Pole und des zwischen ihnen fortwährend angeheizten Wettbewerbs. So wie in einem Einzelstaat der wissenschaftliche Fortschritt proportional zur Zahl der um den Vorrang wetteifernden Universitäten und erfolgreichen Betriebe verläuft, so ist er auf dem ganzen Globus proportional zur Zahl der aufsteigenden Schwellenstaaten. Gewiss dürfen wir zur gleichen Zeit damit rechnen, immer weitere Nutzprodukte mit immer erstaunlicheren Eigenschaften zu erwerben – das ist der erfreuliche Aspekt dieser Entwicklung. Doch mit der gleichen Gewissheit ist davon auszugehen, dass das Arsenal aller möglichen Instrumente des Todes ebenso schnell expandiert – und damit die Wahrscheinlichkeit schon bloß zufälliger, also nicht einmal beabsichtigter Konflagrationen mit jedem Tag größer wird.*1* Oder anders gesagt: Eine multipolare Welt ist heute die gefährlichste überhaupt: ein Pulverfass, dessen Gefahrenpotential mit jedem Tag wächst.

Zwei der größten Friedenspolitiker des vergangenen Jahrhunderts haben diese Bedrohung mit großer Hellsichtigkeit erkannt und vor ihr gewarnt. Bertrand Russell, der sich wie wenige andere für eine gerechte und friedliche Welt einsetzte, war bereit, den USA das Recht auf einen Erstschlag gegen die Sowjetunion einzuräumen, weil er nichts für so gefährlich hielt wie die Proliferation der Massenvernichtungswaffen – und zu seiner Zeit gab es nicht mehr als gerade erst zwei Mächte, die über Nuklearwaffen verfügten.*2* Albert Einstein sah aus dem gleichen Grund in der Verwirklichung einer Weltregierung,*3* wie sie schon Kant zweieinhalb Jahrhunderte zuvor verlangte,*4* die einzige Chance für das Überleben der Menschheit. Solange es auch nur zwei voneinander unabhängige Staaten gebe, sei an Abrüstung nicht zu denken, immer werde die Angst vor dem Gegner geradezu mechanisch die Entwicklung immer mörderischerer Waffen erzwingen und zur gleichen Zeit zu immer neuen Versuchen führen, den Gegner zu überlisten. Dessen Ausschaltung durch einen Erstschlag wird dabei immer als reale Möglichkeit ins Auge gefasst (z.B. wenn man glaubt, das Territorium des Feindes mit einer ausreichenden Zahl von Abfangraketen umzingelt zu haben). Große Mächte wie China und Russland und kleinere wie Nordkorea rüsten eingestandenermaßen für den Zweitschlag auf, weil alle uneingestandenermaßen auch an den Erstschlag denken, den der überlegene Gegner gegen sie führen kann, und den sie selbst, sobald sie dazu mächtig genug sind, ihrerseits führen könnten. Diese Phantasien von kollektivem Morden wurden im bipolaren System, das bis Ende der achtziger Jahre herrschte, nur von den Generalstäben zweier Mächte systematisch entworfen und militärisch vorbereitet, in der heutigen multipolaren Welt werden sie von Generalstäben überall auf der Welt ‚durchgespielt’.

Ist der Mensch seinem eigenen Produkt, der Technik, hilflos ausgeliefert? Wird ein Staat nach dem anderen neben dem Recht auf ein Leben in Wohlstand auch auf dem Recht beharren, dieses durch den Besitz von Massenvernichtungswaffen gegen alle potentiellen Feinde zu schützen? Wer und was könnte ihn in einer multipolaren Welt daran hindern? Etwa die UNO, wenn sie eine soundsovielte Resolution beschließt, womit sie aufstrebenden Atommächten die Produktion von nuklearen oder sonstigen Massenvernichtungswaffen verbietet? Niemand wird so naiv sein, das anzunehmen.

Geben wir die Naivität zugunsten eines hellsichtigen wenn auch schmerzhaften Realismus auf, so gelangen wir notwendig zu einer wenig erfreulichen Konklusion, die durch die Logik eines Einstein und eines Russell, beide Männer des Friedens, ebenso erhärtet wird wie durch die gesamte bisherige Geschichte: Nur mit der Drohung von Gewalt, ausgehend von einer Supermacht oder einem Kartell solcher Mächte, lässt sich die Proliferation jener Gewalt verhindern, wie sie uns die Technik mit ihrem Arsenal global verfügbarer Massenvernichtungswaffen beschert.

Gewalt unter den Atommächten selbst würde allerdings das Ende menschlicher Zivilisation beschwören. Ein Erstschlag, wie ihn Russell noch vor mehr als einem halben Jahrhundert befürwortet hatte und wie er heute weiterhin in den Köpfen strategischer Schachspieler spukt, kommt nicht länger in Frage. Auch China verfügt inzwischen über ausreichend Bomben, um den Globus in einem Zweitschlag unbewohnbar zu machen; Russland hat sich durch nuklearbestückte Atom-U-Boote ohnehin unangreifbar gemacht. Nur ein Kartell der großen Mächte gegen die Kleinen, die ebenfalls mit Massenvernichtungswaffen groß werden möchten, vermag die Gefahr noch zu bannen, dass die Technik in ihrer lebensbedrohlichen Gestalt irgendwann in jedem Kleinstaat genauso beheimatet sein wird wie heute schon Kraftwerke, Flugplätze oder Sendeanstalten.

Die Großen gegen die Kleinen? Diese Aussicht erscheint uns nicht nur abscheulich – sie ist abscheulich. Eine Welt, die sich mit unserem Gerechtigkeitsgefühl verträgt, müsste eine multipolare sein. In jeder Hinsicht müsste sie es sein bis auf die eine entscheidende Einschränkung: Alle Staaten müssten aus Idealismus auf den Besitz von Massenvernichtungswaffen verzichten, damit in dieser Welt der Gerechtigkeit niemand den anderen zu fürchten hat. Genau darin bestand die idealistische Forderung Immanuel Kants.

Leider hat es einen solchen Idealismus in der bisherigen Geschichte niemals gegeben. Realpolitische Einsicht hat daher die genannten Denker, Russell und Einstein, bewogen, eine Welt gutzuheißen, in der Leviathan (bzw. ein um nichts besseres Kartell) die letzte Macht ausübt. Sie haben das Abscheuliche akzeptiert, weil die Proliferation der Macht und die damit unvermeidlich verbundene Proliferation der Massenvernichtungswaffen noch viel abscheulicher wäre: Sie würde die Menschheit mit Sicherheit ins Verderben führen.

Aufgrund dieser Logik, die ich leider nicht für falsch halten kann, wird begreiflich, was uns heute bereits an Widerwärtigkeiten umgibt, z.B. der ungeheure Druck, den die führende Großmacht USA offen und ohne Gewissensbisse auf den gesamten Globus ausübt, während die beiden schwächeren Großmächte Russland und China alles in ihrer politischen und ökonomischen Macht Stehende tun, um zu den USA aufzuschließen. Dass alle Parteien in diesem Wettlauf um die Beherrschung des Globus nur den Frieden und das allgemeine Wohl im Auge haben, versteht sich wie immer von selbst. In Wahrheit müssen wir jedoch damit rechnen, dass die Selbstbestimmung der Völker und ihre Wohlfahrt in diesem Wettlauf allein dann eine Rolle spielen, wenn man mit ihrer Vorspiegelung propagandistische Siege erfechten kann. Im übrigen wird das Wohl einzelner Völker von allen Kontrahenten im ‚großen Schachspiel’ schon jetzt souverän missachtet.

Nochmals die Frage: Ist der Mensch zur Marionette seiner eigenen Schöpfung, der Technik, geworden? Ja und nein. Der einzelne und auch einzelne Regionen und Völker können sich absondern, ihr Leben nach eigenen Vorstellungen gestalten, sofern sie bereit sind, die entsprechenden Risiken einzugehen. Für die Völker der Peripherie bedeutet dies die stete Gefahr, unter die ehernen Räder der Macht zu geraten, Räder, die jetzt schon Teile der Welt brutal zermalmen und jetzt sogar an den Rand Europas vorrücken.

Die Freiheit zur Selbstbestimmung wird also teuer, unter Umständen sehr teuer bezahlt. Auch der Präsident einer Großmacht besitzt sie nicht. Welche Hoffnungen hat Barack Obama zu Beginn seiner Regierungszeit in aller Welt wachgerufen, und was ist aus ihm geworden? Heute ist der amerikanische Präsident das Exekutivorgan einer Supermacht, die zufällig USA heißt, aber ebenso X oder Y heißen könnte, weil im Ringen um die Vermehrung oder wenigstens die Erhaltung der Macht alle Supermächte sich letztlich gleich verhalten.

Der Präsident einer Supermacht ist kein freier Mann, sondern das Sprachrohr einer Administration und der führenden Schicht eines Landes. Manchmal ist er auch das Sprachrohr des eigenen Volks, was keinesfalls wünschbarer sein muss. Wladimir Putin erfreute sich der besten Umfragewerte bei seinen Landsleuten, als er sich die Krim einverleibte. Seine Beliebtheit erlitt einen starken Einbruch, als er in Minsk einen Friedensvertrag unterzeichnete.

Für eine Menschheit, die sich selbst zu Tode konkurrenziert, wie Konrad Lorenz diesen Prozess der Selbstbedrohung prophetisch beschrieb, gibt es nur einen einzigen Ausweg – einen, den die Geschichte vor fünfhundert Jahren schon einmal durchgespielt hat. Das fernöstliche Kaiserreich, Japan, hat von den Europäern gegen Ende des 16. Jahrhunderts Gewehre übernommen und mit Hilfe dieser Waffen das bis dahin politisch vielfach zersplitterte Land über Nacht gewaltsam geeinigt. Nach dieser Einigung trat dann das Unglaubliche ein – so unglaublich, dass es dafür in der gesamten Geschichte der Menschheit kaum weitere Beispiele gibt. Die Tokugawa-Regierung schaffte eine überlegene zugunsten einer primitiveren Technik ab. Mit anderen Worten, sie verbot die Gewehre und deren Herstellung per Dekret, nachdem diese ihren Dienst geleistet hatten: Sie kehrte zu Schwertern zurück. Damals herrschte freilich eine Ausnahmesituation. Die Ausländer hatte man aus dem Land getrieben; nach außen fühlte das abgelegene und rohstoffarme Land sich sicher – und sollte es tatsächlich auch ganze zweieinhalb Jahrhunderte bleiben. Im Innern aber war die Stellung der führenden Schicht ungefährdet – und war es sogar in höherem Maße, wenn sie die primitiveren Waffen gebrauchte, denn mit einem Gewehr konnte jeder Bauer hantieren. Dazu brauchte man keinen Mut und keine persönlichen Qualitäten.

Nur eine Weltregierung wird die Freiheit zurückgewinnen, deren sich die Menschheit durch die Technik in ihrer unheilvollen Gestalt selber beraubte. Eine Weltregierung kann und wird Atomwaffen völlig verbieten, wenn sie sich so sicher wie das damalige Tokugawa-Regime in Tokio ist, dass die verbotenen Waffen nirgendwo ohne ihr Wissen hergestellt werden können. Eine Weltregierung wird das Militär abschaffen, weil es nur noch die Polizei geben wird. Damit wird dann endlich auch die Militärindustrie verkümmern, in deren elementaren Interesse und auf deren Druck heute Kriege ausgeführt werden müssen, denn neue Waffen lassen sich nur verkaufen, wenn man alte Waffen verbraucht. Und nur eine Weltregierung kann den mörderischen Wettbewerb der Menschheit gegen sich selbst beenden.

Eine solche Regierung ist längst kein utopisches Projekt mehr: Die USA erheben schon jetzt den Anspruch, dass sie die Weltregierung verkörpern.

Freilich zu Unrecht. Die USA dämmen den mörderischen Wettbewerb nicht ein, sondern heizen ihn im Gegenteil immer mehr an, weil sie Rivalen haben, die sie nicht mehr besiegen können: Russland und China. Wenn wir alle Pech haben sollten, dann fällt unser persönlich unvermeidbarer Tod im Laufe dieses Jahrhunderts mit dem Sterben der Spezies im letzten Schlagabtausch zusammen. Leider ist diese Perspektive durchaus real, obwohl niemand sie will und alle sie fürchten. In Kriege sind die Menschen in der Regel hineingeschlittert, selten wurden sie kaltblütig vom Zaun gebrochen. Auch die Steigerung der Bestialitäten bis zum Einsatz der letzten Waffen wird kaum jemals vorhergesehen, sondern ergibt sich als letzter Schritt der Verzweiflung, wenn Vernunft keine Chance mehr hat.

Doch es kann auch anders kommen. Wenn die Menschheit Glück hat, werden die drei großen Atommächte sich zu einem Kartell verbinden und eine Weltregierung bilden, ohne dass es zu dem letzten Schlagabtausch kommt. Das allerdings setzt voraus, dass niemand den anderen dabei betrügen kann – das heißt, es setzt ein nahezu vollkommenes Wissen über die Vernichtungstechniken und Möglichkeiten der Mitglieder des Kartells voraus, also einen noch perfekteren Spionageapparat als er von Edgar Snowden beschrieben wurde.

Die Zukunft wird voller aufregender Überraschungen sein, was die positiven Errungenschaften der Technik betrifft – diese Hosiannarufe begleiten uns ohnehin. Aber auf die zukünftige politische und soziale Entwicklung werden wir uns kaum freuen können. Der ewige Frieden wird niemals kommen, dazu ist die Lust am Streit der Meinungen, der verschiedenen Lebensweisen und der eigenen kulturellen Verwirklichung und Behauptung viel zu groß. Ein Frieden allerdings, der uns vor der eigenen Ausrottung bewahrt, ist immerhin denkbar und möglich.*5*

1 Zu den vielen beinahe Katastrophen, die sich schon während der bipolaren Phase ereigneten, vgl. das sorgsam recherchierte Buch von Schlosser, E. (2013). „Command and Control – nuclear weapons, the Damascus Accident, and the illusion of safety“. Penguin, Kindle ebook.

2 Russell consistently opposed the continued existence of nuclear weapons ever since their first use. However, on 20 November 1948, in a public speech[3] at Westminster School, addressing a gathering arranged by the New Commonwealth, Russell shocked some observers with comments that seemed to suggest a preemptive nuclear strike on the Soviet Union might be justified.

3 “The only salvation for civilization and the human race lies in the creation of world government. As long as sovereign states continue to have armaments and armaments secrets, new world wars will be inevitable” (United Press Interview vom 14.  Sept. 1945; New York Times, 15. Sept. 1945 zit. aus Isaacson, 2007, Pos. 990.)

4 Kant wollte keine Weltregierung, welche die bis dahin separat existierenden Staaten zu einem einzigen Superstaat verbindet. Aus einer solchen Vereinigung würde nur ein ‚seelenloser Despotismus’ entstehen. Da es jedoch „für Staaten … keine andere Art geben [kann], aus dem gesetzlosen Zustande, der lauter Krieg enthält, herauszukommen, als dass sie, eben so wie einzelne Menschen, ihre wilde (gesetzlose) Freiheit aufgeben…  [soll] das Völkerrecht … auf einen Föderalism[us] freier Staaten gegründet sein.“ Unter dieser Bedingung wäre der ewige Frieden durchaus möglich – das ist der idealistische Schluss, zu dem Kant am Ende seiner Betrachtungen gelangt. Kant als Realist stellt freilich seine eigene Theorie in Frage, wenn er an einer anderen Stelle schreibt: „Indessen ist … es das Verlangen jedes Staats (oder seines Oberhaupts), … sich so in den dauernden Friedenszustand zu versetzen, dass er, wo möglich, die ganze Welt beherrscht.“

Kants Schreckbild eines seelenlosen Despotismus muss keineswegs zutreffend sein. Regime werden nur dann despotisch, wenn sie gefährdet sind. In den neunziger Jahren, als die Stellung der Vereinigten Staaten durch keinen ernst zunehmenden Rivalen gefährdet war, war ihre Herrschaft viel milder als seit Beginn dieses Jahrhunderts, wo ihnen China und Russland immer näher auf die Fersen rücken.

5 Um diesen bescheidenen, aber absolut notwendigen Frieden zu realisieren, könnte  jenes ‚Zeitalters der Empathie’ bedürfen, dessen unmittelbar bevorstehender Anbruch von Jeremy Rifkin vorausgesagt wird (Jeremy Rifkin (2010). „Die Empathische Zivilisation – Wege zu einem Globalen Bewusstsein“. Frankfurt: Campus).