Das Uhrwerk, der Ingenieur und der Heilige Geist

(auch erschienen in: "scharf-links")

Über den heiligen Geist wissen wir wenig, und seit zehntausend Jahren hat sich unser Wissen kaum vergrößert. Über Uhrwerke wissen wir viel und mit jedem Tag mehr.

Der Körper als Uhrwerk

Das beweist zum Beispiel der Körper, den die Medizin weitgehend als ein Uhrwerk betrachtet, und zwar mit durchschlagendem Erfolg. Immer mehr Bestandteile unserer physischen Substanz lassen sich mit Ersatzteilen erneuern. Die Medizin entnimmt sie entweder anderen Körpern oder bringt sie durch Nachzüchtung künstlich hervor.

Auch das Gehirn wird von der Mehrzahl der Forscher als ein – wenn auch außerordentlich komplexes – Uhrwerk verstanden. Einige Neurologen sind von den bisher gewonnenen Erkenntnissen derart berauscht, dass sie das Gehirn überhaupt für eine Maschine halten, wo Freiheit keinen Platz haben kann, weil alle geistigen Vorgänge auf materielle zurückgeführt werden können und diese im Prinzip strikter Berechenbarkeit unterliegen.

Verstoß gegen die Logik

Diese Behauptung krankt allerdings an einem inneren Widerspruch. Ist der Mensch (auch nur teilweise) frei, wie einige frühere Philosophen behauptet hatten, dann muss jeder ‚Beweis’ der eigenen Unfreiheit notwendig falsch sein. Sollte er dagegen ganz und gar unfrei sein, also nichts anderes als eine überaus raffinierte aber im Prinzip völlig berechenbare Maschine – ein Uhrwerk eben -, dann wäre der Beweis ohnehin nicht möglich, und zwar aufgrund des Gödelschen Paradoxes. So wenig ein System seine eigene Wahrheit (seine eigenen Voraussetzungen) zu erklären vermag, so wenig vermag eine unfreie Maschine die eigene Unfreiheit zu beweisen.*1*

Damit ist nichts gegen die tausendfach erwiesene empirische Wahrheit gesagt, wonach unser Körper sich weitgehend wie eine Maschine verhält. Darauf beruhen einerseits die atemberaubenden Erfolge der modernen Medizin, vor allem der Chirurgie; darauf beruhen die epochalen Durchbrüche der Biogenetik, die es in einem gewissen Maße erlauben, die natürliche Schöpfung im Reagenzglas künstlich nachzubilden und Evolution nach menschlichen Zwecken zu planen. Und auf diesen akkumulierten Kenntnissen beruht nicht zuletzt unser Wissen über die bestmögliche Zusammensetzung der Nahrung, über die täglich erforderliche Anregung der Muskeln und über den optimalen Ausgleich zwischen Arbeit und Freizeit. Mit diesem Wissen können wir das Körper-Uhrwerk dazu bringen, seine Aufgaben optimal zu verrichten.

Ein unvollständiges Wissen

Dieses Wissen hat nur einen, allerdings tiefreichenden Nachteil: Es trägt keineswegs nur zur Erweiterung, sondern gewöhnlich auch zur Beschränkung unserer Erkenntnis bei. Nur zu leicht sehen wir nämlich darüber hinweg, dass das optimale Funktionieren des Uhrwerks durchaus keine Garantie dafür bietet, dass der Mensch, dem dieses Uhrwerk gehört, sich ebenfalls in einem optimalen Zustand befindet. Auf Neuseeland waren frühe Forscher darüber erstaunt, dass ein in jeder Hinsicht vor Kraft strotzender Eingeborener von einem Tag auf den anderen dahinsiechen und in kurzer Zeit sterben konnte, wenn ihm ganz zufällig das Unglück ereilte, die Nahrung oder das Eigentum eines Häuptlings zu berühren und damit den Bruch eines Tabus zu begehen. Eine in unseren Augen bloß eingebildete psychische Kraft (denn bei keinem Europäer konnten derartige Wirkungen jemals beobachtet werden) erwies sich als stark genug, um alle Gesetze des mechanischen Uhrwerks auf der Stelle außer Kraft zu setzen.

Immaterielle Kräfte

Psychische Kräfte, die keine andere Ursache als den kollektiven Glauben an die von ihnen ausgehende Wirkung haben, waren nicht nur bei den Maoris wirksam, sondern überall auf der Welt; und sie betreffen nicht nur Eingeborene auf einem niedrigen Niveau der materiellen Entwicklung, sondern in unverminderter Stärke auch uns selbst und unsere Zeitgenossen. Nirgendwo sind die Menschen materiell so gesichert, so gut genährt, gesundheitlich so gut umsorgt wie in den reichsten Staaten des Westens. Zur gleichen Zeit sind nirgendwo sonst Pessimismus, Weltverdrossenheit, psychische Probleme so endemisch wie gerade in unserem Teil des Globus. Mag daher unser Wissen über das Funktionieren des eigenen Körperuhrwerks noch so detailreich und wissenschaftlich verlässlich sein, es bietet keineswegs einen Schutz vor allgegenwärtigen immateriellen Kräften. Genauso wie zu Zeiten der Maoris sind unser Denken und unsere Gefühle auch heute imstande, die vorausberechneten Funktionen des Uhrwerks zu destabilisieren oder ganz außer Kraft zu setzen. Die Uhrwerksmedizin hat zwar eine Reihe von chemischen Präparaten entwickelt, die auf die physiologisch-materiellen Vorgänge in unserem Gehirn künstlich Einfluss nehmen. Aber allenfalls unterdrückt sie damit akute Übel. Dagegen erzielt sie nicht im Entferntesten die ungeheuren Wirkungen, die von einem belebenden Gedanken, einem heilenden Glauben, einer begeisternden Idee auszugehen vermögen, also von Erscheinungen immaterieller Art. Die Befriedigung eines Forschers über ein von ihm gerade gelöstes Problem, eine gerade ersonnene Erfindung; die Begeisterung eines Künstlers für eine überraschende Inspiration sind ebenso von dieser mysteriösen Art wie das Erlösungsgefühl, das von einer religiösen Botschaft oder einer Ideologie oder einfach von dem Gefühl ausgehen kann, sich für eine ‚gute Sache’ einzusetzen (mag diese nun objektiv gesehen wirklich gut sein oder auch nicht). Zu keinem Zeitpunkt hat die Medizin so viele Menschen geistig und nicht selten auch körperlich geheilt oder in einen Zustand kollektiven Wohlbefindens versetzt wie derartige psychische Kräfte.

Gesellschaft als Uhrwerk

In unverminderter Stärke gilt der Dualismus von geistiger Realität und materiell fassbarem Uhrwerk auch für den Menschen als soziales Wesen. Auch hier hat die moderne Forschung ein Stadium akkumulierten Wissens erreicht, das uns zum ersten Mal in der menschlichen Geschichte erlaubt, die Vorbedingungen für das effizienteste Funktionieren des sozialen Uhrwerks mit hinreichender Genauigkeit zu beschreiben. Mit ihren Fragen nach der gerechtesten, der fortschrittlichsten, der reichsten Gesellschaft und ihren zu Beginn noch weitgehend irrigen Antworten haben Denker wie Jean-Jacques Rousseau, Adam Smith, Auguste Comte, Karl Marx, Max Weber, Emile Durkheim und Wilhelm Röpke (um nur die wichtigsten Denker zu nennen) die Grundlagen zu diesem Wissen gelegt. Weitgehend abgeschlossen haben das Bauwerk in unserer Zeit Jared Diamond, Ian Morris und schließlich Daron Acemoglu & James Robinson.

Das perfekte Sozio-Uhrwerk

Für den Ingenieur, der heute vor der Aufgabe stände, das perfekte soziale Uhrwerk zu konstruieren, steht also ein Baukasten gesicherter Erkenntnisse bereit, die sich auf folgenden Kern komprimieren lassen: Wo immer die ökonomische und politische Macht sich auf möglichst viele Köpfe verteilt, wobei eine starke staatliche Instanz zur gleichen Zeit darüber wacht, dass die Macht der einen nicht die Freiheit (Chancengleichheit) der anderen beschränkt, hat eine Gesellschaft auf bestmögliche Weise für die materiellen Vorbedingungen ihres langfristigen Erfolgs gesorgt. Im Idealfall zielen die ‚einbindenden’ (Acemoglu: ‚inclusive’) Gesellschaften auf die Mitarbeit jedes einzelnen ihrer Glieder ab. Jedes Individuum muss die Chance besitzen, das eigene Talent und Können im Wettbewerb mit anderen zu seinem Vorteil zu nutzen, vorausgesetzt, dass es dem allgemeinen Wohl damit keinen Schaden zufügt. Immateriell drückt sich der von ihm gewonnene Vorteil in sozialem Prestige, materiell in der Vermehrung privaten Eigentums aus, dessen Sicherheit der Staat garantiert. Einbindende Gesellschaften sind allen ausbeutenden (‚extractive’) weit überlegen, weil die in den Letzteren bestehenden Machtmonopole nur einer Elite soziales Prestige und einklagbare Rechte an Eigentum gewähren. Die von dieser Elite beanspruchten Privilegien unterdrücken den Wettbewerb und gewähren dem Talent und Können der einzelnen geringe oder gar keine Chancen.

Permanente Revolution und Zerstörung

In der einbindenden Gesellschaft wacht der Staat darüber, dass alle Glieder der Gesellschaft ausschließlich gemäß Talent und Können und niemals aufgrund angemaßter und sich mit der Zeit verfestigender Rechte soziale Anerkennung und materielle Vorteile erwerben. Im linken Lager war es eine Zeitlang üblich, die ‚permanente Revolution’ als Gesellschaftsideal zu verklären. Völlig richtig hatte schon Karl Marx erkannt, dass die fortwährende Selbsterneuerung zum Wesen moderner Gesellschaften gehört. „Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren.“ In der Tat mobilisieren nur die einbindenden Gesellschaften das Potential, sich mit jeder Generation und mit jedem technischen oder organisatorischen Durchbruch neu zu erfinden.

Zwangsläufig setzt permanente Erneuerung allerdings auch permanente Zerstörung voraus. Damit Neues fortwährend entstehen kann, muss Altes in gleichem Maß abgeschafft werden. Positiv gesehen sind einbindende Gesellschaften solche der nie endenden ‚schöpferischen Zerstörung’ (Schumpeter), die sich in einem nie versiegenden Strom von Erfindungen, Gesellschaftsentwürfen, eben von Neu-Schöpfungen, manifestiert. Negativ gesehen sind es Gesellschaften einer nie endenden Unruhe, Gärung und Zerstörung, die beständig auch das eigene Wertefundament zu zersetzen droht.

Die unwahrscheinliche Konstellation

Denn, sich selbst überlassen, haben die konkurrierenden Einzelnen nur ihren individuellen Vorteil im Blick. Der ‚Markt’ frisst die Moral, er zersetzt die verpflichtenden Spielregeln. Das Gemeinwohl liegt für die einzelnen Marktakteure jenseits ihrer je eigenen Froschperspektive. Ist der Staat schwach, dann wird es bedenkenlos dem individuellen Nutzen geopfert: Es wird zur Beute der Vorteilsjäger. Dankt der Staat ab, so herrscht nur noch Chaos: Der Kampf aller gegen alle, wie ihn Hobbes im 17. Jahrhundert beschwor. Überleben kann die freie Gesellschaft immer nur unter der Ägide eines starken Staates, der im Auftrag aller darüber wacht, dass sich die Jagd nach dem individuellen Nutzen mit den Forderungen des Gemeinwohls verträgt. Ein starker Staat erhält und stärkt das soziale Fundament an gemeinsamen Werten, verpflichtenden Spielregeln und einer Moral, die der Markt selbst nicht zu schaffen vermag (Wilhelm Röpke).*2*

Die glückliche Konstellation von individueller Freiheit und einem Staat, der die stets drohende Degeneration von Freiheit in Zügellosigkeit verhindert, war immer ein seltenes, eher unwahrscheinliches Ereignis.

Die Uhrwerksgesellschaft und das menschliche Glück

Erneut stoßen wir an diesem Punkt auf den Dualismus von Geist und Maschine. Der Körper verhält sich teilweise so berechenbar wie ein Uhrwerk, aber er reagiert auf nichts so direkt und auch so wenig berechenbar wie auf geistige Phänomene. Die These, dass Körper wie Seele im Prinzip Maschinen seien, ist nachweisbar falsch, obwohl sie sich gerade unter Wissenschaftlern besonderer Beliebtheit erfreut. Die für ihre Forschung nützliche Arbeitshypothese von der prinzipiellen Berechenbarkeit der Natur haben sie in eine metaphysische Unwahrheit verkehrt.*3*

Das gilt auch für den sozialen Körper, wo die These von der Gesetzhaftigkeit (Notwendigkeit) der Geschichte nicht nur von Marx verfochten wurde. Zu Unrecht, denn auch hier spielt der unberechenbare Geist eine entscheidende Rolle. Die Analysen des menschlichen Sozio-Uhrwerks besagen nichts oder sehr wenig über das Glück, das Menschen in Kulturen genossen, die materiell durchaus nicht erfolgreich waren und im Vergleich zu uns auch nicht reich genannt werden können. Ich denke z.B. an eine kulturell blühende Agrargemeinschaft, wie sie einmal auf Bali bestand. Regelmäßig sind dort von einem Ältestenrat die Ackerflächen je nach Familiengröße zwischen den Mitgliedern der Gesellschaft neu aufgeteilt worden. Nicht Talent, nicht Können, nicht Wettbewerb waren ausschlaggebend für den Anteil des Einzelnen, sondern die Anzahl der zu ernährenden Köpfe. In materieller Hinsicht kannte diese Gesellschaft kaum Veränderungen, und dennoch war sie ein kleines Wunder an kultureller Entfaltung. Auch dort gab es Erneuerung, aber ohne obligate Zerstörung. Die Werte in dieser Gesellschaft waren über Jahrhunderte unverrückbar.

Überall auf der Welt hat es kleinere Gemeinschaften des Teilens und Schenkens gegeben, die nach diesem Prinzip funktionierten, aber es waren keine dynamischen Gesellschaften, deren Reichtum sich über die Zeit vermehrte und die daher zu geschichtsmächtigen Akteuren aufstiegen. Es waren statische Gesellschaften, die am Beginn der beginnenden Globalisierung allesamt von dynamischen Konkurrenten aus der Geschichte gedrängt und oft auch restlos vernichtet wurden. Mögen die Menschen in einigen von ihnen (ich denke hier wieder an das frühere Bali) noch so glücklich gewesen sein, in Büchern über erfolgreiche Gesellschaftsmodelle wird kein Wort über sie verloren.

Auch dem Sozialingenieur macht der Geist einen Strich durch die Rechnung

Im Dualismus von Uhrwerk und Geist liegt ein Problem, das die Aufgabe des Sozialingenieurs beinahe unlösbar macht. Zweifellos haben wir viel über den materiellen Erfolg einer Gesellschaft gesagt, wenn wir aus den Fakten der Geschichte die Lehre ableiten, dass sie auf maximale Weise die Mitarbeit mobilisiert und eine zentrale politische Instanz zugleich darüber wacht, dass sich einzelne oder Gruppen nicht wieder Monopole der (ökonomischen und politischen) Macht verschaffen. Doch der Sozialingenieur beschreibt nur langfristige Phänomene. Der Geist – oder auch Ungeist – macht ihm auf der Ebene der Gesellschaft genauso einen Strich durch die Rechnung wie der Medizin im Hinblick auf materiellen Organismus des einzelnen Mensch. Ähnlich wie die Übertretung eines Tabus einen physisch völlig gesunden Menschen umzubringen und eine belebende Idee einen Halbtoten wieder ins Leben zurückzubringen vermag, verhält es sich auch mit der Wirkung von sozialen Heilsversprechen. Es ist ja nicht wahr, dass Diktatoren wie Napoleon, Hitler oder Mao sich nur oder auch nur vorwiegend auf Bajonette stützten. Das viel solidere Fundament ihrer Macht war die zündende Wirkung der von ihnen proklamierten Ideen. Erst wenn diese nach Millionen von Toten endgültig diskreditiert worden waren, verloren sie ihre Faszination.

Was ist absurder, als die im ‚Großen Sprung nach vorn’ konkret realisierte Überzeugung Maos, dass der richtige revolutionäre Geist das technische Wissen zu ersetzen vermag? Unter unsäglichen Opfern ist ihm ein ganzes Volk eine Zeitlang dabei gefolgt, weil der Glaube an die alles verwandelnde Macht des Geistes eben auch eine ungeheure Faszination ausübt, groß genug, um einige Jahre alle Einwände der Vernunft als kleinliche oder bösartige Kritteleien einer unbelehrbaren Bourgeoisie vom Tische zu wischen.

Kein Zweifel: Eine belebende Idee oder eine lähmende Angst vermag unter Umständen weit größere Wirkungen hervorzurufen als die vielfach erprobte medizinische Wissenschaft. Das trifft aber auch auf eine zündende Ideologie oder einen aufrüttelnden Glauben zu. Für eine bestimmte Dauer sind sie durchaus imstande, die Lehren der Sozialingenieure auf den Kopf zu stellen, mögen diese historisch auch noch so gut erwiesen sein. Das chinesische Volk lebt zwar unter einer sehr starken Regierung – einer Diktatur – von Einbindung kann nur in ökonomischen Sinne die Rede sein und auch dort nur mit starken Einschränkungen. Den außerordentlichen Erfolg des Regimes wird dieser im Sinne der Sozialingenieure augenfällige Mangel jedoch erst dann in Frage stellen, wenn die vom Politbüro proklamierten Ideen nicht länger zünden. Einerseits das Versprechen, Jahr um Jahr der eigenen Bevölkerung auch in den westlichen Provinzen des Landes wachsenden Wohlstand zu bescheren, andererseits die emotional nicht weniger bedeutsame Verheißung, der chinesischen Nation wieder jene internationale Achtung und Stellung als Großmacht zu verschaffen, die sie bis in 17. Jahrhundert genoss. Die arroganten und ökonomisch erodierenden USA, das ohnmächtig zerstrittene Europa will man durch eigene Tüchtigkeit nicht nur einholen, sondern überrunden. Vorstellungen von nationaler Größe, über die man sich in Europa erhaben glaubt, sind eine treibende Kraft in China ebenso wie in Indien und anderen empor strebenden Staaten, wo man sich mehr und mehr auf die eigenen nicht-westlichen Werte besinnt.

Das Problem ist die Definition von sozialem Erfolg

Es sind Werte, die letztlich zählen. Wie sehr, das zeigt ein Blick gerade auch auf die Staaten des Westens. Im Vergleich zu den meisten anderen Staaten und zu den Verhältnissen, wie sie in der Vergangenheit herrschten, folgen sie dem ‚einbindenden’ Modell, auch wenn die Gleichheit der Chancen inzwischen wieder der Erosion unterliegt. Ihr materieller Erfolg steht nicht in Frage: offensichtlich haben sie einen historisch einzigartigen Wohlstand erworben.

Ihr Problem ist von anderer Art: Der materielle Erfolg stellt sie nicht länger zufrieden. Denn dieser Erfolg ist Segen und Fluch zugleich. Er hat uns zwar Wohlstand verschafft, aber gleichzeitig zur Ausplünderung des Planeten geführt. Unser exponentiell gewachsenes kollektives Wissen und Können hat die Welt überdies in ein hoch explosives Pulverfass verwandelt. Eine paradoxe Entwicklung: Das Wohlstandsmodell der Sozialingenieure hat seinen Zweck über alle Erwartungen erfüllt, doch gerade sein außerordentlicher Erfolg bildet heute die größte Gefahr für das Überleben der Menschheit. Inzwischen sind es nicht allein westliche Staaten – ein schrumpfender Anteil der Weltbevölkerung – die ihre gesamte Bevölkerung dazu konditionieren, sämtliche Ressourcen der Erde erst in Nutzprodukte und anschließend in Abfall umzuwandeln, sondern die gesamte, immer noch wachsende Weltbevölkerung ist zunehmend in diesen gigantischen Feldzug gegen die Natur eingebunden. Mag der Sozialingenieur triumphieren, weil er eine brauchbare Formel für die Wohlstandsvermehrung durch Wachstum gefunden hat. Und mögen die materiell weniger begünstigten Staaten seine Rezepte immer noch kritiklos übernehmen. Der materiell reichste Teil der Menschheit steht diesem Triumph mit zunehmender Skepsis gegenüber, manche Menschen auch in unverhohlener Verzweiflung.

Die Umwertung der Werte

Diese Skepsis und diese Verzweiflung haben dazu geführt, dass einst klangvolle Begriffe wie Wettbewerb, Eigentum, persönliche Leistung für viele zweideutig, wenn nicht gar anrüchig wurden. Peitscht nicht der Wettbewerb die Menschheit in eine Arena des Wettrennens gegen sich selbst und gegen die Natur? Ist es nicht das persönliche Eigentum, welches das Feld der Gier ins Grenzenlose erweitert? Führt der Kult persönlicher Leistung nicht zu einer Kultur der Brutalität, wo es dem Stärkeren erlaubt ist, die Schwachen zu erdrücken? All diese Fragen wirft der Geist auf, wenn er aus dem Uhrwerksgehäuse fertiger Vorstellungen auszubrechen versucht. Es sind nicht nur weltfremde Phantasten, welche in die Vergangenheit blicken und an die Stelle des tonangebenden Erfolgsmodells moderner Staaten etwas ganz anderes setzen: Utopien eines möglichen Glücks in Gesellschaften, wo Schönheit, Dauer und immaterielle Werte dem Menschen weit mehr bedeuten. Die Skepsis hat längst auf die Mehrheit übergegriffen. Die materiell gesättigten Bürger westlicher Industrienationen glauben nicht länger, dass der forcierte Verschleiß tausender Konsumartikel den Schaden aufwiegt, denen eine gar nicht mehr schöpferische Zerstörung und ein zunehmend gehetzter Lebensstil inmitten einer geschundenen Natur ihnen auferlegen.

Der heilige Geist und der unheilige Wahnsinn

Der unruhige Geist, der sich solche teilweise absurden, manchmal seherischen und in wenigen Fällen die Wirklichkeit radikal neu gestaltenden Fragen stellt, ist ein heiliger Geist, der einzige, der die Menschen immer zu neuen Ufern getrieben hat. Denn als heilig galt ja immer das Außerordentliche, die Durchbrechung aller Routine, der Blick in eine neue, noch nicht verwirklichte Wirklichkeit. Das Heilige war deshalb auch stets in Gefahr, sehr nahe an den Wahnsinn zu grenzen. Man flog in die Höhe und gewöhnlich stürzte man dabei auf klägliche Weise ab, manchmal wurden (wie in der Sowjetunion und in China) gleich Millionen von Menschen mit in den Abgrund gerissen. Das war bei all den Versuchen der Fall, das Eigentum abzuschaffen, den Wettbewerb zu verpönen, die persönliche Leistung der linientreuen Gesinnung zu opfern.

Solche Einwände ändern freilich nicht das Geringste daran, dass die Sozialingenieure, die sich auf die historische Erfahrung verlassen, nur dann Gutes zustande bringen, wenn es der Geist ist, der diese Erfahrung interpretiert. Man kann die hieraus resultierende Einsicht auf doppelte Art verstehen: in einem rein formalen Sinn ebenso wie auf der Ebene der Zwecke und Werte.

Nur noch eine Sache der Form

Formal betrachtet sind die besten Rezepte nichts wert, wenn sie zu Hülsen erstarren, unter denen die gelebte Realität sich verflüchtigt. Dass Russland – allen eigenen Beteuerungen zum Trotz – keine Demokratie ist, seitdem der neue russische Zar oppositionelle Medien weitgehend ausgemerzt hat, ist kein Geheimnis. Dass in Europa die lokale Verfügung der Bürger über den eigenen Lebensraum – die elementarste Art der Mitbestimmung – immer mehr ausgehöhlt wird, daraus wird schon eher ein Geheimnis gemacht, weil es das paternalistische Brüsseler Zentralbüro selber ist, das sich mit Tausenden von Verordnungen darum bemüht, zwischen Syrakus und Tromsö einen neuen Einheitsmenschen zu erschaffen: den ‚Homo europeensis’.*4* Mit allem propagandistischen Aufwand aber wird darüber hinweggetäuscht, dass auch die USA seit der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts nur noch der Form nach die Bezeichnung als Demokratie verdienen. Präsidentschaftskandidat kann dort nur werden, wer sich die nötigen Wahlkampfgelder von den oberen fünf Prozent verschafft. Das Volk darf nur zwischen Kandidaten entscheiden, denen das große Kapital zuvor das Prädikat ‚tauglich’ verliehen hat. Nach den Worten von Noam Chomsky haben sich die USA hinter einer demokratischen Fassade de facto in eine Plutokratie verwandelt, eine Herrschaft des großen Geldes. Die einbindende Gesellschaft erstarrt zu einer formalen Hülse, wenn der Geist aus ihr entwichen ist.

Welche inhaltlichen Werte definieren den Erfolg?

Noch schlimmer ist es, wenn der Geist sich aus den Werten und Zwecken verflüchtigt. Die größte Herausforderung betrifft ja immer den Inhalt. Wie definieren wir den ‚Erfolg’ einer Gesellschaft? Nur den ärmsten Bewohnern des Globus erscheint diese Frage überflüssig. Wohlstand als Aufschließen zu den jeweils Reichsten gilt ihnen als selbstverständliches Ziel. Wenn das reiche Viertel der Menschheit über private Autos, Waschmaschinen, Einfamilienhäuser und billige Flugreisen verfügt, dann wollen die restlichen drei Viertel genau dies, nämlich ebenfalls Autos und Waschmaschinen und billiges Fliegen. Zwangsläufig muss es daher das wohlhabende Viertel sein, welches sich dazu entschließt, das Ziel einer ‚guten’ und ‚fortschrittlichen’ Gesellschaft, also den eigenen Erfolg, neu zu bestimmen.

Abschied von der totalen Ökonomisierung

Ein erster Schritt auf diesem Weg wurde in Deutschland aus der Einsicht heraus getan, dass der Frieden mit der Natur heute genauso wichtig ist wie der Frieden in der Gesellschaft. Zaghaft hat die Energiewende damit begonnen, an die Stelle einer unbegrenzten Ausbeutung natürlicher Ressourcen deren Erneuerung zu setzen. Das könnte auch der Auftakt für eine grundlegende Erneuerung der Werte sein. Diese müsste wohl vorrangig darin bestehen, von der totalen Ökonomisierung des Lebens abzurücken, also von einer Definition des sozialen Erfolgs, die allein den materiellen Wohlstand im Auge behält. Das Brüsseler Zentralbüro, bis heute ein wesentlicher Motor dieser umgreifenden Ökonomisierung, wird seine Orientierung ändern müssen. Immer noch wird gepredigt, dass die ökonomische Maschinerie nur dann richtig laufe, wenn der Mensch ihr alles übrige opfert: die Erhaltung und Schönheit der Natur, die Würde des historisch gestalteten Lebensraums, die Stabilität der menschlichen Beziehungen, die Muße, die zu einem erfüllten Dasein gehört.

Viel Geist wird gebraucht – es schadet nicht, wenn er heilig ist

Die Sehnsucht, Erfolg auf ganz andere, weniger materielle Art zu definieren, ist in Europa weit verbreitet. Allerdings auch die verständliche Forderung, dass man nicht – wie das leider die traurige Regel ist – dem schlechter gestellten Teil der Bevölkerung die Kosten für den Verzicht auf weiteres materielles Wachstum aufbürdet. Und natürlich kommt noch eine weitere Befürchtung hinzu. In einer globalisierten Welt wird das eigene Handeln zwangsläufig nicht nur von den eigenen Zwecken, sondern genauso vom Verhalten und den Zwecken aller anderen bestimmt. Aufsteigende Staaten wie etwa China haben ausschließlich den konventionellen materiellen Erfolg im Auge und treiben die eigene Bevölkerung gnadenlos zu Höchstleistungen an. Wenn Europa aus dem Wettrennen austritt, wenn es sich Schönheit, Dauer, Besinnung und Muße leistet, riskiert es dann nicht, zu einer Museumsinsel zu werden – mitleidslos abgedrängt ins historische Nichts von den dynamischeren, den rücksichtsloseren Akteuren? So ist es mit vielen Gesellschaften der Vergangenheit geschehen, die vielleicht weit glücklicher waren als wir, aber von denen uns die Geschichte nicht mehr als eine vage Erinnerung vermeldet.

Wenig Geist ist vonnöten, um offenkundige Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen, wie wir eine gerechtere Gesellschaft verwirklichen ohne drohendes Abgleiten in die Privilegienrepublik,*5* aber es wird viel Geist, eigentlich nicht weniger als ein heiliger Geist gebraucht, um auf die ganz neuen Frage nach der überlebensfähigen Gesellschaft der Zukunft die richtigen Antworten zu finden!

1 Dies ist eine Variante zum vierten Freiheitsbeweis, präsentiert in meinem Buch „Die Macht der Träume und die Ohnmacht der Vernunft – eine Philosophie der Freiheit“ oder auf englisch: http://www.gerojenner.com/portal/gerojenner.com/forum_files/The%20Power%20of%20Dreams.pdf.

2 Früher konnte der Staat die Aufgabe der moralischen Grundlegung der Religion überlassen. Diese allerdings war in der Regel fortschrittsfeindlich eingestellt. Der Protestantismus mit seiner anfänglichen Affinität zur kapitalistischen Ethik (Max Weber) bildete da eine seltene Ausnahme. Ebenso der Islam bis zur Zerstörung Bagdads durch die Mongolen im 13. Jahrhundert.

3 Wie in meinem unter Anm. 1 erwähnten Buch im Einzelnen ausgeführt.

4 Siehe Hans Magnus Enzensberger, „Sanftes Monster Brüssel oder Die Entmündigung Europas“; Suhrkamp 2011. Eine europäische Regierung als Abschluss eines Prozesses organischer Annäherung zwischen den Nationen des alten Kontinents wird es irgendwann geben, und sie wird von allen gebilligt werden, wenn sie ihre Aufgabe als Wahrung gemeinsamer Interessen nach außen versteht statt als bürokratische Gleichmacherei nach innen. Auf diese Weise – und eben nicht aufgrund systematischer Gleichmacherei – wuchsen die ursprünglich unabhängigen Staaten zusammen, die heute die USA bilden. Und gleichfalls als Schutzgemeinschaft entstand die heutige Schweiz.

5 Ein wenig von diesen geistigen Minimalforderungen hoffe ich in meinem neuen Buch „Gleiche Chancen für alle – gegen den parasitären Transfer und die Zerstörung von Demokratie und Umwelt!“ vorstellen zu können.