Was hat Washington mit Europa vor?

(auch erschienen in Transcend Media von Johan Haltung)

Was bisher nur in Afrika, Südamerika oder Teilen Asiens geschah, droht jetzt über Europa hereinzubrechen – ein Stellvertreterkrieg an seinen Grenzen. Wie konnte es dazu kommen? Henry Kissinger kritisierte, dass die EU keine Telefonnummer besitze, an die man sich um Auskünfte wenden könne. Der wirkliche Mangel ist von anderer Art und lässt sich heute nicht länger leugnen. Der Nimbus Europas ist verblasst. Seine idealistische Selbstdarstellung, wonach es ein Vorbild für die übrige Welt sein könnte, hat sich als Illusion entpuppt. Wirtschaftlich ist Europa im Niedergang, politisch zerstritten. Zwischen Russland und den Vereinigten Staaten ist ein Machtvakuum aufgebrochen, in das die beiden Superstaaten, ungeniert eindringen können.

Welch paradoxe Situation! Während sich die öffentliche Meinung Europas über so unerhebliche Probleme wie Pegida versus Multikulti bekriegt, werden seine führenden Politiker Merkel und Hollande von Russen und Amerikanern mitleidslos an die Wand gedrängt. Mit seinem feinen Gespür für die Macht hat Russlands Präsident Putin als einer der ersten erkannt, dass der europäische Traum sich unmerklich in eine Fata Morgana verwandelt. Nirgendwo auf der Welt spricht man von einem Traum, wenn fünfzig Prozent der Jugendlichen arbeitslos sind, wie das gegenwärtig im mediterranen Süden der Fall ist. Nirgendwo in der Welt hält eine Bevölkerung still, wenn man sie so kujoniert oder vor aller Welt wie dumme Schulbuben behandelt, wie das derzeit mit den Griechen geschieht.

Verschwörungstheorien helfen nicht weiter, will man das Verhalten von Amerikanern und Russen erklären. Überall wo ein Machtvakuum entsteht, bricht eine offene Flanke auf, die durch fremde Interessen zum Vormarsch genutzt werden kann, so war es bisher in den uns fernliegenden Teilen der Welt (und wir haben uns nicht sonderlich darum bekümmert), so ist es jetzt unmittelbar vor unserer Haustür. Die Akteure in diesem Machtspiel verhalten sich dabei aus eigener Sicht durchaus rational. Um ihren Status als immer noch stärkste Macht des Globus auch künftig zu behaupten, drängen die USA gegen Russland und China vor, die einzigen Staaten, die ihre Vormachtstellung bedrohen. Die Unabhängigkeit der Ukraine nach dem Zerfall der Sowjetunion bot ihnen die Chance, Russlands einzige ganzjährig verfügbare Flottenbasis und damit den strategisch überaus wichtigen Zugang der Russen zum Mittelmeer abzutrennen. Mit Sicherheit hätte eine unabhängige oder gar in die Nato integrierte Ukraine den Russen auf amerikanischen Druck ihren Stützpunkt auf der Krim genommen. Eine ganz ins westliche Lager übergelaufene Ukraine würde außerdem als traditionell bedeutende Landwirtschaftsbasis und als Industrieversorger für Russland entfallen. Wie schon Brzezinski in seinem berühmt-berüchtigten Buch The ‚Grand Chessboard’ vorhergesagt hatte, wäre damit den Ambitionen Russlands, jemals wieder zu einem Imperium aufzusteigen, ein für alle Mal ein Ende gesetzt.

Darum geht es den US-Amerikanern: Es soll auf jede Weise verhindert werden, dass irgendeine Macht der Welt ihre Vormachtstellung ernsthaft gefährdet. Vor den Toren Chinas, das sie als langfristig größte Bedrohung ansehen, werden sie deshalb nach eigenem Bekunden sechzig Prozent ihrer gesamten militärischen Potenz stationieren. Gegenwärtig allerdings sehen sie den günstigsten Moment gekommen, um erst einmal Russland niederzukämpfen. In der Propaganda geschieht das bereits seit Jahren, schon seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Russland wird als drittrangige Wirtschaftsmacht hingestellt – was es auch ist – als technologisch rückständig – was nur im zivilen Bereich zutrifft – und als militärisch unbedeutend – was keineswegs wahr ist. Die führenden Kreise Amerikas scheinen sich sicher zu sein, dass man Putins Russland genauso in die Knie zwingen werde wie das gegen Ende der achtziger Jahre unter Reagan mit der Sowjetunion möglich war.

Die tätige Hilfe Europas und der Ukraine ist dabei erwünscht – die der letzteren wurde bereits gewonnen. Niemand kann übersehen, dass die Umarmungen Poroschenkos mit Joe Biden und John Kerry weit herzlicher waren als der knappe Händedruck mit Hollande und Merkel. Im Pentagon macht man sich nichts daraus, dass die Regierung in Kiew sich auf zwielichtige, zum Teil rechtsradikale Kreise stützt, es genügt, dass sie es fertigbrachte, zumindest in Teilen der eigenen Bevölkerung den Hass gegen Russland und die ‚Terroristen’ zu schüren. Dieser Hass wird von Seiten der Amerikaner genährt und nach Kräften instrumentalisiert. So sehr es im Sinne Europas wäre, dass die ukrainische Regierung mit dem russischsprachigen und zum Teil russophilen Teil ihrer Bevölkerung in Donbass und Luhansk den Dialog aufnimmt, so wenig sind die Amerikaner an einem Stillhalten interessiert. Sie weisen das als Appeasement zurück.

Leider nötigt das zu einer bestürzenden Einsicht. Die USA haben nichts gegen das Chaos, sofern ihre eigene Stellung als unbestrittene Weltmacht dadurch gestärkt wird. Das Chaos in Afghanistan, im Irak, in Syrien oder in Libyen schadet ihnen ebenso wenig wie das beginnende Chaos am östlichen Rand Europas. Der alte Kontinent ist schon jetzt bedroht. Hatte die EU noch vor eineinhalb Jahrzehnten reichlich großmäulig verkündet, dass sie ökonomisch zur Nummer eins aufrücken wolle, wurde sie durch die 2007 von den Amerikanern ausgehende Wirtschaftskrise ins Mark getroffen und wird nun durch die Sanktionen gegen Russland weiter zur Ader gelassen. Der Niedergang wird sich verschärfen, weil die Vermittlungsbemühungen des deutsch-französischen Tandems weder im Sinne der Amerikaner noch im Sinne Russlands sind. Da sich schon jetzt absehen lässt, dass die ukrainische Armee ohne Aufrüstung mit modernen amerikanischen Waffen den von Russland massiv unterstützten Rebellen nicht gewachsen ist, werden die Amerikaner ihre Einmischung schrittweise verstärken – ohne Rücksicht auf Europa, das einen Krieg an seinen Grenzen mit allen Kräften verhindern will, auch wenn das ein erneutes Abdriften der Ukraine in den russischen Machtbereich nach sich zöge. In diesem Punkt hält sich Washington an den großen Schachspieler Brzezinski. Um jeden Preis wollen sie die Ukraine zu einem Mitglied der NATO machen.

Leider bin ich überzeugt, dass ihnen der Preis, auch den Alten Kontinent – so wie schon den Mittleren Osten – allmählich in das Chaos abgleiten zu lassen, durchaus nicht zu hoch erscheint. Ein wirtschafts- und machtpolitischer Konkurrent weniger, das hat bisher noch keine Großmacht wirklich bekümmert. Man denke nur an das imperiale Rom und seine von steten Kämpfen fortdauernd verwüsteten Randprovinzen.

In Washington werden solche Machtkalküle in aller Nüchternheit durchgespielt, in Europa begreiflicherweise nur mit heller Empörung. Aber Empörung hilft nicht weiter, es kommt darauf an, die Beweggründe für das Vorgehen der USA zu begreifen. Sie glauben, dass eine Welt auf Dauer instabil sei, ja nicht einmal überlebensfähig, in der mehr als eine Supermacht die Hand am Drücker der Massenvernichtungswaffen hat. Eine dauerhaft multipolare Welt halten sie für unrealistisch, deswegen stecken sie allein so viel Geld in ihre Rüstung wie alle übrigen Nationen zusammen. Es ist schon ganz richtig, wenn Russen und Chinesen gegen die Amerikaner wieder und wieder den Vorwurf erheben, die Weltherrschaft anzustreben. Genau das haben die Amerikaner vor. Sie nehmen alles in Kauf, selbst das Chaos, um zu verhindern, dass irgendeine konkurrierende Macht ihnen – und, wie sie meinen, einer endgültig stabilen unter einer einzigen Macht geeinten Welt – ernsthaft zur Gefahr werden könnte. Die Lüge von Russen und Chinesen, die dies auf heftigste kritisieren, besteht leider darin, dass sie selbst (allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz) genauso handeln würden, wenn sie es könnten. Putin hat kein Hehl daraus gemacht, dass er den Zusammenbruch der Sowjetunion für eine sehr große Katastrophe für die ganze Welt erachte. Die Chinesen ihrerseits sind im Begriff, das Zeitalter Asiens einzuläuten. Um sich die entsprechende Macht- und Wirtschaftsbasis zu verschaffen, gehen sie bedenkenlos gegen ihre schwächeren Nachbarn vor.

Angesichts des von den siegreichen Republikanern ausgehenden Drucks wird der amerikanische Präsident seinen Widerstand gegen Waffenlieferungen an die Ukraine wohl demnächst aufgeben müssen. Sobald es dazu gekommen ist, wird der Kleinkrieg vor der Haustür der Europäischen Union in einen heißen Krieg umschlagen, in dem Russland aufgrund seiner geographischen Nähe zweifellos über die besseren Karten verfügt. Auf russische Erfolge wird Europa dann allerdings mit panischer Angst reagieren – genau das ist es, worauf die Amerikaner spekulieren. Denn auch die Vorsichtigen, die Abwägenden, die Zögernden, die jetzt noch heftig Protestierenden werden dann nolens volens unter den US-amerikanischen Rüstungsschirm getrieben, den einzigen Schutz vor der eiskalten Umarmung des russischen Bären. Angela Merkel und Deutschland, noch vor kurzem als die treibenden Kräfte in Europa gefeiert oder beargwöhnt, werden von da an nur noch Getriebene zwischen den Fronten sein. Spätestens in diesem Moment – aber er ist schon ganz nahe gerückt – wird sich die Konfrontation in einem unbedeutenden Grenzland zu einer ernsten Bedrohung für den Weltfrieden ausweiten, weil nun wirklich Westen und Osten – die NATO und Russland – gegeneinander prallen.

Nächste Folge: Wie konnte es dazu kommen? Warum ist das europäische Projekt so kläglich gescheitert, dass zwei Weltmächte es jetzt zum Spielball für ihre Interessen machen?