Schnibben entdeckt die Unterwelt

Essay »Die Überflüssigen« von Cordt Schnibben

Dass es die da oben und die da unten gibt, ist wahrlich nicht neu. Es kann gar nicht anders sein, wenn die Gesellschaft besondere Leistungen und Talente mehr als andere belohnt. Sich in diesen mehr als andere auszuzeichnen, läuft per definitionem eben darauf hinaus, dass diese anderen auf der gesellschaftlichen Skala tiefer gereiht sein werden. Auch in einer Gesellschaft perfekter Chancengleichheit kann es nicht anders sein. Die Sache von oben und unten lässt sich also grundsätzlich kaum vermeiden.

Es war jedoch die historische Errungenschaft der französischen Revolution, die Vererbung von Reichtum und Armut abzuschaffen. Wenn es Unterschiede noch gab und auch weiterhin geben sollte, dann eben nur jene, welche die persönliche Leistung dem Einzelnen auf begrenzte Zeit verschaffte. Eine allen gewährte Bildung sollte die Karten neu mischen und neu verteilen, damit jede neue Generation zu allen Posten und Vergünstigungen wieder den gleichen Zugang erhielt. Das war das große Projekt der Moderne. Ein bleibendes Oben und Unten durfte es nicht mehr geben. Unter dieser Bedingung bot eine Gesellschaft ihren Bürgern die Gleichheit der Chancen. Wenn ihr dies wirklich gelang, galt und gilt sie als eine gerechte Gesellschaft. Sie ist vor den Bürgern legitimiert – die einzige wahre und wirkliche klassenlose Gesellschaft, auch wenn es in ihr notwendig oben und unten gibt.

Doch eben diese Gesellschaft existiert heute in Deutschland nicht mehr. Zum Missfallen deutscher Politiker aller Couleurs und aller Bürger, die sich ihr gutes Gewissen bewahren wollen, hat Pisa dies nachgewiesen. Wer das Glück hat, reichen Eltern in die Wiege gelegt zu werden, besitzt die besten Chancen, später selbst zu den Wohlhabenden zu zählen, wem dasselbe dagegen in einer Wohnung von Harzt-IV-Empfängern passiert, der wird mit größter Wahrscheinlichkeit ebendort auch sein Leben beenden. Doch selbst dies ist nicht sicher. Kann der Staat Hartz-IV in einigen Jahren nicht länger bezahlen – er fährt seine Leistungen ja schon jetzt kontinuierlich zurück – dann wartet die Straße auf ihn. In Deutschland hat sich eine Unterschicht etabliert, die vorläufig noch mit staatlichen Steuereinnahmen, oder richtiger gesagt, mit staatlicher Schuldenaufnahme bei Laune gehalten wird. Vorerst hört und sieht man sie nicht, zumindest wenn tapfer Augen und Ohren geschlossen hält. Anders als das römische Proletariat, die hungernden französischen Massen vor der Revolution oder die Arbeitslosen von Weimar machen die Armen in Deutschland gegenwärtig nicht auf sich aufmerksam. Sie verstecken und schämen sich, machen sich unsichtbar. Ihre Zahl ist noch nicht groß genug, um ein explosives Gemisch zu ergeben. Solange der Staat sie noch aushalten kann, ist ihr Leben mit dem der wirklich Armen in Afrika und in Asien auch nicht vergleichbar. Weshalb man auch alle Vergleiche mit Weimar mühelos zurückweisen kann. In ihren Gettos halten sie still und werden still gehalten. Tags und nachts sitzen sie vor den Fernsehschirmen und konsumieren das inzwischen nach ihnen benannte Unterschichtenprogramm. Diesen Stumpfsinn halten sie mit Hilfe der Bierflasche durch. Mit ihren acht Prozent Bevölkerungsanteil konsumieren sie rund 40 Prozent des in Deutschland verkauften Alkohols. Vorerst reagieren sie sich also nur im Jenseits der Drogen ab.

Das Diesseits braucht sich vor ihnen, Gott sei Dank, jetzt noch nicht zu fürchten. Peinlich genug ist ihre Existenz trotzdem. So peinlich, dass ein sozial denkender Mann wie Müntefering, angeblich „realitsfremde“ Soziologen dafür zur Rede stellt, dass sie diese Menschen mit der Bezeichnung als Unterschicht diskriminieren. Seht doch, scheint er zu sagen, wie gut wir sie alimentieren. Sie fühlen sich wohl, haben sich mit ihrer Lage eingerichtet. Was müsst ihr sie da mit hässlichen Analysen beunruhigen.

Gegen Herrn Schnibben, der uns davon unterrichtet, kann man nicht den Vorwurf erheben, er würde die Lage verniedlichen. Die Armen sind da, die Erblichkeit der Armut ist da. Ihr Heer schwillt von Jahr zu Jahr. Das bestreitet er nicht. Insofern liefert er dem Spiegelleser eine unbeschönigte Analyse. Leider ist der Verfasser dennoch weniger weit von Herrn Müntefering entfernt, als er selber zu meinen scheint. Denn was empfiehlt er zur Linderung der dramatischen Lage? Er übt sich in weiser Überlegenheit. Der globale Kapitalismus lasse eine höhere Beschäftigung eben nicht zu. Diese acht Prozent – er verschweigt, dass die Kurve der Arbeitslosen seit dreißig Jahren beharrlich in die Höhe weist und dass es morgen zehn, übermorgen zwanzig Prozent etc. sein werden – müssten sich eben damit zufrieden geben, dass die Gesellschaft ihnen keine Erwerbsarbeit mehr anbieten kann. Herr Schnibben fordert sie auf, sich ihren Lebenssinn woanders zu suchen.

Diese Aufforderung ist einigermaßen überflüssig. Denn das tun die Armen in Deutschland ja ohnehin. Sie suchen ihren Lebenssinn im Alkohol und im Unterschichtfernsehen. Jedenfalls solange, wie der Staat ihnen diesen Ersatz noch bezahlen kann. Solange er also seine Schulden noch mehr in die Höhe schraubt, damit man die Peinlichkeit übersehen kann und es in Deutschland offiziell keine Unterschicht gibt – kein Prekariat, wie Herr Schnibben es nennt.

Aber was, wenn das nicht länger der Fall ist, und diese Leute dann auf der Straße enden, wie heute schon nicht wenige ihresgleichen? Welchen Lebenssinn werden sie dann empfehlen, Herr Schnibben? Können Sie uns auch nur mit einem einzigen geschichtlichen Beispiel belegen, dass ein Staat, der kein Geld mehr hatte sondern eben nur Schulden, auf Dauer bereit und fähig war, eine Armenschicht von heute acht, morgen zehn und übermorgen zwanzig Prozent dauernd durchzufüttern? Was für einen Lebenssinn werden sie den Armen empfehlen, wenn der Staat sie nicht mehr erhalten kann? Haben sie sich darüber Gedanken gemacht, dass ihr Lebenssinn dann die Revolution sein wird, so wie heute schon der Lebenssinn vieler Armer aus dem Osten in organisierter Kriminalität und vieler noch Ärmerer aus dem Süden in Terror besteht?

Ja, Sie haben sich auch darüber Gedanken gemacht – und was für welche! Sie sind dem Schicksal eines gewissen Ralf Kühn in Hamburg-Billstedt nachgegangen, der seinen Genossen und allen gutgläubigen Spiegellesern den Ausweg aus der Misere weist. Der Mann hat nämlich im letzten Moment einen neuen Stein aus Zement, Sand, Wasser und Reisschalen erfunden, den Stein der Weisen. Er wird seine Herstellung auch gleich auslagern lassen. Das beweist, dass der glückliche Mann sich noch dazu ganz auf der Höhe der Zeit befindet. Was für ein stolzer, kluger Prekarier, rufen sie aus, und wir, die wir jetzt unsere Ohren spitzen, hören wie ein Chor von Spießlesern die Worte mit Ihnen zusammen in vollem Brustton noch einmal ruft. Was für ein stolzer, kluger Prekarier!

Was aber sind dann Sie, Herr Schnibben? Wie soll man von jemand denken, der diesen Schwachsinn allen Ernstes den Arbeitslosen des Landes entgegenzuhalten wagt?