Warum Götz Werner fast ein Genie ist

Der ehemalige Chef der dm-Kette propagiert das bedingungslose Grundeinkommen für jeden. In einer sozial gerechten Gesellschaft, wo die Einkommensunterschiede nicht größer sind als etwa im Deutschland der siebziger oder in Japan bis in die achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts würde ein solches Einkommen allerdings gar keinen Sinn ergeben. Jeder würde nur mit der linken Hand empfangen, was er mit der rechten gleichzeitig gibt, nämlich mit seiner eigenen Arbeit. Hier wird eine Medizin gegen ein Symptom verschrieben statt gegen die Ursache der sozialen Krankheit, nämlich die fortschreitende Konzentration der Vermögen. Einige wenige besitzen zu viel, die meisten anderen zu wenig oder auch gar nichts.

Wenn es Herrn Werner darum gehen sollte, dieses Ungleichgewicht durch ein bedingungsloses Grundeinkommen zu mildern, für dessen Finanzierung zuallererst jene verantwortlich sind, die viel zu viel besitzen, so kann jeder nur für dessen Einführung sein. Es ist eine Art Wiedergutmachung in einer Gesellschaft, in der sich der soziale Graben vertieft. Aber wird das mit den von Herrn Werner vorgeschlagenen Maßnahmen wirklich erreicht?

Wie bekannt, will er die Einführung eines Grundeinkommens mit einer drastisch erhöhten Mehrwertsteuer bezahlen. Grundeinkommen und Mehrwertsteuer bilden für ihn ein untrennbares Tandem. Aber schauen wir hin, was in seinem System passiert. Angenommen Karl Albrecht, der Eigentümer von Aldi Süd, würde seine Handelskette verkaufen und sein gesamtes Vermögen von 16,10 Milliarden Euro in Schwellenländern anlegen und dabei nur eine kümmerliche Rendite (bzw. einen Zinssatz) von 10% erzielen, dann käme er auf einen Stundenlohn von etwa 200 000 Euro – und da habe ich den Tag allerdings mit 24 Stunden und die Woche mit 7 Tagen gerechnet. Berücksichtigt man die übliche Arbeitszeit, so „verdient“ er pro Stunde mehr als das Doppelte, nämlich knapp eine halbe Million Euro! Seine Lebensmittel kauft er natürlich steuerfrei ein, weil die Mehrwertsteuer dafür ja bei Null liegen soll, um den ärmsten Teil der Bevölkerung steuerlich zu schonen. Meint ihr denn wirklich, dass es ihn bei diesem Stundenlohn quälen würde, wenn er für Autos, Fernseher und zwei oder drei zusätzliche Villen einen bedeutend höheren Mehrwertsatz zahlt? Dieser Zuwachs hält sich zwangsläufig in Grenzen, weil all diese Artikel ja auch noch für die Bevölkerungsmehrheit erschwinglich sein sollen. Und wenn er wirklich den Aufschlag auf einen Privatjet vermeiden will, dann kauft er ihn eben in China!

Selbst diejenigen, die „nur“ ein Tausendstel seines Stundeneinkommens beziehen (200 Euro), gehören zusammen mit Herrn Albrecht immer noch zu den oberen 10 Prozent. Sie alle werden sich echt ins Fäustchen lachen und Herrn Werner auf Knien danken, dass sich die weitere Zunahme ihres Reichtums jetzt turboartig beschleunigt, weil Herr Werner ja gleichzeitig verlangt, dass alle bisherigen Steuern, die sie immerhin noch etwas geärgert haben, mit einem Schlag entfallen sollen (Unternehmens-, Vermögens-, Körperschaftssteuern usw.). Und was ist mit Euch? Wie die meisten anderen Menschen verfügt ihr – wenn überhaupt – gerade Mal über den zehntausendsten Teil dieses Stundenlohns (20 Euro). Ihr seid die wirklichen Opfer seiner Mehrwertsteuer.

Und dennoch. Herr Werner hat durchaus richtige Einsichten, einige von ihnen verdienen es, genial genannt zu werden. Er ist überzeugt, dass der Staat nur besteuern sollte, was der einzelne der Allgemeinheit durch den Konsum entzieht, nicht was er ihr durch Können und Leistung gibt. Erst auf diese Weise könne er für steuerliche Gerechtigkeit sorgen. Ja, Herr Werner liegt in diesem Punkt völlig richtig! Nur auf das falsche Pferd hat er leider gesetzt, nämlich die Mehrwertsteuer, die gar keine reine Verbrauchssteuer ist. Anders gesagt, sein Gegengewicht zum Grundeinkommen kann einfach nicht funktionieren. Zwar belastet die Mehrwertsteuer letztlich den Endkonsumenten, der hat schließlich die ganze Bürde zu tragen, aber bemessen wird sie nicht an seinem Verbrauch, sondern an der Leistung der Produktionsstufen der vorangehenden Phasen. Wir ihr Name besagt, wird sie nach der Wertschöpfung oder dem Umsatz berechnet und belastet daher Können und  Leistung – noch dazu ohne jede ökologische Lenkungsfunktion. Ja, Herr Werner hatte eine geniale Idee, aber er hat sie leichtfertig verspielt. Er widerspricht sich selbst, wenn er zwar in der Besteuerung des Verbrauchs die volkswirtschaftlich einzig gerechte und sinnvolle Lösung sieht, diese Aufgabe aber dann der Mehrwertsteuer aufbürdet.

Und doch liegt Herr Werner in einer anderen Hinsicht wieder ganz nahe bei der Genialität. Er muss sich wohl unter starkem Rechtfertigungsdruck befinden, wenn er als einer der reichsten Deutschen einem Publikum von Hartz-IV-Empfängern die Erlösung von allen Übeln verheißt. Er ahnt wohl, dass die Armut, die er mit seinem Grundeinkommen aufheben möchte, doch etwas mit dem großen Reichtum zu tun haben könnte, den er selbst und andere genießen. Unter diesem Rechtfertigungsdruck lässt er sich zu einer seltsamen Behauptung verleiten: „Im Grunde ist mein Reichtum doch nur virtuell.“ Eine solche Bemerkung ist nun wirklich gefährlich. Herr Werner hätte wissen sollen, welche Steilvorlage er damit den vielen im Hintergrund lauernden Spöttern bietet.

Doch lassen wir den Spott einmal beiseite. Herr Werner würde sich nämlich augenblicklich unsere größte Hochachtung verdienen, wenn er nur ein einziges Wort in diesem Statement auswechselt. Das Vermögen an einer großen Kette wie dem dm-Markt oder an irgendeinem anderen Privatunternehmen sollte für dessen Eigentümer ein bloß virtuelles sein. So formuliert wird daraus eine einleuchtende und sozial revolutionäre Forderung. Hier liegt in der Tat ein Ansatz, um der Krankheit der fortschreitenden Vermögensballung ein Ende zu setzen.

Schaut auf die Aktiengesellschaften – da ist diese Forderung ohnehin schon verwirklicht. Die Manager und die Beschäftigten dürfen das ihnen von den Aktionären zur Verfügung gestellte Geldkapital nicht für ihre persönlichen Bedürfnisse verwenden. Insofern verfügen sie in der Tat nur über ein virtuelles Eigentum. Wäre der Aktienbesitz an den wichtigsten deutschen Unternehmen über die ganze Bevölkerung halbwegs gleichmäßig verteilt, wie es der Management-Guru Peter Drucker für die USA schon vor Jahren verlangte, dann hätten wir ein gesundes und blühendes soziales System. (Ich füge hinzu, dass eine entsprechende Besteuerung des Verbrauchs genau diese Wirkung erzielen kann. Meine Website: Neuer Fiskalismus)

Auch das persönliche Eigentum an einem Betrieb war de facto oft weitgehend virtuell. Einige der großen Industriekapitäne vom Ende des 19. Jahrhunderts und in den ersten drei Nachkriegsjahrzehnten waren für ihre asketische Lebensführung bekannt. Sie verwalteten ihren Betrieb im Dienst an der Gesellschaft, wobei sie gar nicht so selten die größten persönlichen Opfer brachten. Max Weber hatte in dieser Bereitschaft zur „innerweltlichen Askese“ geradezu das Geheimnis für den Geist des Kapitalismus zur Zeit seiner Entstehung gesehen.

Dieses Bild des Unternehmers dürfte Herr Werner vor Augen haben – und es ist gut möglich, dass er selbst ihm in seiner aktiven Zeit in hohem Maße entsprach. Betriebsführung als soziales Projekt – auch das gehörte immer zum Kapitalismus und hat bei so vielen die Kritik eingeschläfert. Gerade Herr Werner sollte jedoch wissen, dass die Eigentumsgesellschaft jedem Eigentümer eines Betriebs eben zu jeder Zeit auch ein ganz anderes Verhalten gestattet. Wie oben für Herrn Albrecht einmal durchgerechnet, kann ein Eigentümer die eigene Firma jederzeit an andere verkaufen. Und dann sieht die Sache für ihn und für die Gesellschaft auf einmal radikal anders aus. Statt sein Vermögen im Dienste der Allgemeinheit durch eigene Leistung auf bestmögliche Art zu verwalten, lässt er es jetzt „für sich arbeiten“. Genauer gesagt, lässt er von da an andere ohne jeden eigenen Leistungsbeitrag für sich schuften. Von Askese kann da keine Rede mehr sein, auch nicht von Aufopferung für die Gesellschaft, sondern nur noch von einer Opferung der Gesellschaft für private Interessen. Der böse Geist des Kapitalismus entweicht aus der Flasche. Denn genau hier liegt der Ursprung jener für ein Gemeinwesen auf Dauer tödlichen Krankheit, die Götz Werner eben nicht offen zugeben will: die Krankheit einer unaufhaltsam fortschreitenden Konzentration der Vermögen.

Im Grunde seines Herzens ist er sich dieser Gefahr wohl durchaus deutlich bewusst. Er müsste jetzt eigentlich nur den Mut aufbringen, die richtigen Konsequenzen aus diesem Wissen zu ziehen. Wenn das persönliche Vermögen an einer Handelskette oder einem produzierenden Unternehmen zwar keineswegs virtuell ist, aber ein virtuelles sein soll, dann kann es über die Lösung des Problems gar keinen Zweifel geben. Der Unternehmer-Eigentümer darf mit dem Betriebsvermögen alles machen, solange es dem Geschäftszweck zugute kommt. Dabei geht er genauso vor wie die Manager einer Aktiengesellschaft. Aber sobald er dieses Vermögen für ganz persönliche Zwecke nutzt, ändert sich die Situation.

Und da sind wir bei einem Punkt, wo Herr Werner – trotz des Aufschreis, den ich jetzt von allen Seiten zu hören glaube – abermals durchaus im Recht ist. Er verlangt, dass man nicht jene bestrafen dürfe, welche durch ihre Wertschöpfung die Quelle des gesellschaftlichen Wohlstands bilden. Schafft die Einkommenssteuern  bei den Beschäftigten und der Betriebsführung ab, beseitigt sämtliche Steuern auf Unternehmen! Auch das ist ein genialer Gedanke – nein, ich widerspreche mit diesem Lob dem zuvor Gesagten nur scheinbar. Man muss sich nur teuflisch davor hüten, diesen Gedanken leichtfertig vorzutragen, denn dann kann er nur schlimmen Verdacht erregen: Soll das Grundeinkommen etwa nur dazu dienen, damit Herr Werner und die Profiteure des gegenwärtigen Systems einen Vorwand haben, um sich selbst mit gutem Gewissen und womöglich noch mit dem Einverständnis der betrogenen Massen von aller Steuerlast zu befreien?

Herr Werner hätte diesem tödlichen Verdacht leicht entgehen können. Dazu braucht er nur die beiden Enden seiner Argumentation entschlossen zusammenzufügen. Wie gesagt, das persönliche Betriebsvermögen soll virtuell sein und die Besteuerung des Verbrauchs statt der Wertschöpfung soll die einzig zulässige Form der Besteuerung werden. Wenn er zu diesen beiden Prinzipien steht, dann ergibt sich augenblicklich ein völlig anderes Bild.

Denn was muss nun geschehen, sobald der Unternehmer seinen Betrieb verkauft, also es ganz für persönliche Zwecke verwendet? In diesem Augenblick zerschneidet er das Band jener täglich für den Betrieb erbrachten Leistungen, die seine Verfügung über das Betriebsvermögen erst legitimieren. Der Unternehmer verwandelt sich auf einmal in einen schlichten Verbraucher. Damit aber fällt der Erlös, den er durch den Verkauf erzielt, unter die Vorsorge (oder, wie ich es nenne, den „aufgeschobenen Konsum“) und ist dann, wie bei jedem anderen Bürger, einer progressiven Besteuerung auszusetzen. Der Großteil seines Vermögens geht also bei einem solchen Verkauf augenblicklich in die Hände der Allgemeinheit über. Und das ist nicht wenig. Der Staat nimmt auf diese Weise bedeutend mehr Steuern ein als im bisherigen System durch die Vermögens-, Erbschafts- oder Schenkungssteuern zusammen. Zwischen dem Betriebsvermögen und dessen Verwendung im persönlichen Verbrauch wird eine klare Grenze gezogen (vgl. hierzu meine Website: Neuer Fiskalismus). Eine richtig konzipierte Besteuerung des Verbrauchs – für die ich hier nur dieses Beispiel anführte – bietet in der Tat die Lösung für das dringlichste Problem unserer Zeit. Sie hat eine so weitreichende Wirkung, dass ein Grundeinkommen sich nach kurzer Zeit ganz erübrigt. Hätte Herr Werner diesen Schritt vollzogen, wäre er jetzt nicht dem bösen Verdacht ausgesetzt, unter dem Vorwand eines Grundeinkommens in Wahrheit sich selbst und den reichsten Deutschen ein großartiges Geschenk zu machen.

Er könnte sich mit dem empörten Einwurf dagegen wehren, dass das ja Sozialismus sei? Nein, das kann er durchaus nicht. Der Sozialismus will die Betriebe verstaatlichen und dadurch führt er in einen die persönliche Initiative erstickenden Feudalismus zurück (siehe Wohlstand und Armut). Davon ist hier keine Rede. Alle Unternehmen bleiben in privatem Besitz, gleichgültig ob sie einem einzelnen oder als Aktiengesellschaften einer Vielzahl von Eigentümern gehören. Bei Betrieben im Einzelbesitz wird nur die Verfügung über das vom Unternehmen repräsentierte Vermögen eingeschränkt und damit die Möglichkeit zur persönlichen Bereicherung. Man muss nicht auf das heutige China blicken, um sich bewusst zu werden, welche Ausmaße eine solche Bereicherung innerhalb weniger Jahre annehmen kann. Aus einer verordneten Gleichheit im Maokittel wurde ein Zustand extremer Ungleichheit. In China schießen die Milliardäre wie Pilze aus dem Boden und bereiten den Boden für kommende soziale Revolutionen vor.

Götz Werner hat das alles schon angedeutet. Er hat es in genialer Weise auch fast schon ausgesprochen.