Einem Standbild pinkelt man nicht ans Bein?

Unter den Zuschriften, die ich auf meine Kritik an Herrn Götz Werner erhielt, waren solche, die von Neidgetriebenheit sprachen, andere, die den Vorwurf erhoben, ich würde einen verdienten Mann auf schmalspurige und einseitige Weise anrempeln. Von Anfang an habe ich mit derartigen Einwänden gerechnet. Ich war mir aber auch der Tatsache bewusst, dass wir als Deutsche dazu neigen, bevor wir aufmucken oder gar eine Revolution beginnen, erst einmal bei der Obrigkeit nachzufragen, ob wir das denn überhaupt dürfen.

Sicher, jeder hat das Recht mit all seinen Leistungen gewürdigt zu werden. Herr Werner, so wurde mir entgegengehalten, sei ein hervorragender Chef gewesen, einer der auf seine Weise darum bemüht war, dem Kapitalismus ein menschliches Gesicht zu verleihen. Natürlich verdient er dafür unsere Achtung. Aber soll man deswegen verschweigen, dass sein Buch 1000 Euro für Jeden grobe Unwahrheiten enthält?

Wenn in einem einzigen Satz gleich zwei davon enthalten sind, genauer gesagt, sogar drei, dann ist das doch wohl rekordverdächtig? Ich zitiere:

„Man kann davon ausgehen, dass Reiche auch mehr konsumieren, also werden sie auch mehr Steuern zahlen“ (S. 245).

Herr Werner ist ein Mann der Praxis, der nicht unbedingt wissen muss, was die Lehrbücher der ökonomischen Wissenschaft dazu sagen. Dort hätte er nachlesen können, dass die Reichen im Verhältnis zu ihren Einkommen natürlich viel weniger als die materiell Benachteiligten konsumieren. Einigen meiner Kritiker liegt aber viel daran, solche Passagen als bloßes Versehen zu relativieren. Herr Werner sei eben kein Büchermensch. Nun gut, möchte ich dazu bemerken. Dann soll er auch keine Bücher schreiben und damit vor die Massen wie ein Messias treten, der mit dem Grundeinkommen fast alle Übel der Welt beseitigt. Da muss er sich eben gefallen lassen, dass man ihn an seinen eigenen Ansprüchen misst.

Damit komme ich zu seiner zweiten Verstoß gegen die Wahrheit: „…also werden sie [die Reichen] auch mehr Steuern zahlen.“

Man tadelt mich für einen zu harten Ton, aber hat Herr Werner wirklich nichts davon gewusst, dass er hier eine offensichtliche Unwahrheit sprach? Ja, es ist wahr, dass die abhängig Beschäftigten, also die Arbeiter und Angestellten bis in den Mittelstand, unter der progressiven Einkommenssteuerlast stöhnen. Allerdings gilt das nur für jene unter ihnen, die nicht zu den höchsten Rängen gehören. Ein Topmanager wie Josef Ackermann braucht im Vergleich zum normalen steuerpflichtigen Bürger praktisch keine Steuern zu zahlen (hierzu Hans Weiss und Ernst Schmiederer: Asoziale Marktwirtschaft. Köln 2004. S. 241). In England wurde es vor einiger Zeit sogar bekannt, dass Fondsmanager weniger Steuern als ihre Putzfrauen bezahlen (Harald Schumann, Der globale Countdown. Köln 2008. S. 169). Und diese Steuervermeidung gilt nun erst recht von den Selbstständigen, die bekanntlich das Privileg genießen, ihr Einkommen selbst einzuschätzen und damit auch die eigene Besteuerung. Ihnen stehen heute Mittel und Wege der kreativen Verschleierung zu Gebote, die den Steuerfluss von dieser Seite zunehmend eintrocknen lassen. Wie sehr das auch für Unternehmen gilt, hat sich mittlerweile ja auch schon herumgesprochen.

Gewiss, ich verwende recht böse Wörter wie „Rattenfänger“ und „großer Narkotiseur“. Das sind Unfreundlichkeiten, in denen man unverzeihliche Frechheiten sehen müsste, wenn sie nicht auf einem soliden Grund triftiger Argumente ruhen. Die triftigen Argumente aber liefert Herr Werner seinen Kritikern selbst, indem er mit der Wahrheit so freizügig umgeht.

Das zeigt sich auch in dem Augenblick, wo er uns seine eigene Lösung vorstellt. Da schultern die Reichen natürlich auch die größere Steuerlast. Es zeigt sich leider, dass wir damit zu seiner dritten Unwahrheit kommen.

Sie ist nicht gleich auf den ersten Blick zu erkennen. Herr Werner hat ja einige aufregende und wirklich bedeutende Vorschläge zu bieten. Er will eine Besteuerung des Verbrauchs einführen. Die Einkommenssteuern und alle jetzt geltenden Steuern auf Leistung, Talent und Können schädigen nach seiner Meinung die Wirtschaft. Die Wirtschaft aber ist die Keimzelle unseres Reichtums: unseres gemeinsamen Wohlstands. Das ist allerdings eine sensationelle Idee. Ich stehe da ganz auf seiner Seite. Nur gelingt es ihm leider, eine richtige Einsicht gleich wieder in eine Unwahrheit umzuwandeln – die dritte in einem Satz. Nachdem er nämlich Beelzebub – die Besteuerung der Leistung – abgeschafft hat, führt er umgehend den Teufel ein: die Mehrwertsteuer. Sie wird zwar dem Endverbraucher letztlich aufgebürdet und belastet dadurch seinen Verbrauch, aber auf den vorangehenden Stufen der Produktion wird sie am Umsatz, also der Leistung, bemessen, die der Besteuerung ja gerade nicht ausgesetzt werden soll.

Doch das ist nicht alles. Schauen wir uns an, was in seinem System tatsächlich passiert, wenn zwei Personen mit unterschiedlichem Einkommen und, sagen wir, unterschiedlicher Stromrechnung die entsprechende Mehrwertsteuer bezahlen. Der eine beziehe ein Einkommen von 700 Euro mit einer Stromrechnung von 70 Euro, wovon die Steuer ein Zehntel, also 7 Euro, betrage. Ein reicher Nachbar im Villenviertel verdiene 10 mal so viel: 7000 Euro; seine monatliche Stromrechnung möge 700 Euro betragen. Sie ist also gleichfalls zehnmal so groß, und er bezahlt eine Mehrwertsteuer von 70 Euro. Götz Werner sagt nun, das sei gerecht. Der Reiche konsumiert zehnmal so viel, und er wird zehnmal so hoch besteuert.

Doch stimmt das wirklich?

Tatsächlich wird nur der 700-Euro-Empfänger durch die Steuer wirklich getroffen. 7 Euro sind für ihn schon ein kleines Vermögen, wofür er mehr als eine Stunde zu arbeiten hat. Für unseren 7000-Euro-Mann sind dagegen 70 Euro an Mehrwertsteuer ein Klacks, über den er nicht einmal nachdenken wird, auch wenn er dafür vielleicht ebenfalls eine Stunde zu arbeiten hat. Denn bei seinem Einkommen sind alle Grundbedürfnisse längst gedeckt, während sein Gegenüber die größte Mühe hat, auch nur für die notwendigsten Dinge zu sorgen. Eine lineare Besteuerung, also ein und derselbe Steuersatz für Arme und Reiche, ist daher die ungerechteste Art der Besteuerung. Im besten Fall friert sie das Verhältnis von Oben und Unten dauerhaft ein. Tatsächlich aber trägt sie höchst effizient dazu bei, den Abstand noch auszuweiten. Der 700-Euro-Mann legt nämlich nichts für Ersparnisse zurück. Das kann er gar nicht. Der 7000-Euro-Bezieher aber legt einen Teil seines Geldes an und bezieht damit ein zusätzliches Einkommen ganz ohne eigene Leistung. So bleibt der eine verlässlich im Prekariat gefangen, während der andere nach oben steigt. Und damit haben wir noch gar nichts über die legale wie illegale Steuervermeidung und Steuerflucht gesagt, die sich die Privilegierten zunutze machen.

All das blendet Götz Werner aus. Er wünscht sich die lineare Mehrwertsteuer. Wer will mir da das Recht abstreiten, ihn einen Rattenfänger zu nennen? Dass er immerhin einen höheren Mehrwertsatz für Luxusgüter vorschlägt, lasse ich als mildernden Umstand nicht gelten. Arm und Reich konsumieren Tausende von Dingen gemeinsam. Sie leben in ein und derselben Welt. Zwar nützt es den Armen, dass der Reiche für Luxusgüter eine etwas höhere Steuer zahlt, aber dieser Effekt wird durch die lineare Besteuerung zunichte gemacht.

Auch in diesem Fall suggerieren meine Kritiker, Herr Werner brauche das doch nicht gewusst zu haben. Seriöse Ökonomen sind sich aber schon seit langem bewusst, dass die progressive Besteuerung – also steigende Steuersätze bei steigendem Einkommen – genau aus dem Grunde erfunden wurde, um das Auseinanderdriften von Reich und Arm zu verhindern. Wer also die Einkommenssteuer ersetzen will – und das will Herr Werner genauso wie ich – der muss auch den zweiten Schritt gehen, indem er eine progressive Besteuerung des Verbrauchs verlangt. Leider fehlt dieser entscheidende Schritt bei Herrn Werner. Stattdessen bewegt er sich im Gegenteil zurück, indem eine lineare Besteuerung propagiert, also die sozial ungerechteste Variante. Sie würde die sozialen Gräben noch viel weiter aufreißen.

Nun fragt der intelligente Leser allerdings durchaus zu Recht. Lässt sich eine progressive Verbrauchssteuer denn überhaupt realisieren? Wie soll das gehen, wenn wir Benzin an der Zapfsäule beziehen oder im Supermarkt unsere Einkäufe machen? Sollen die Verkäufer uns dort vielleicht fragen, ob wir zu den Hartz-IV-Empfängern oder zu den oberen Zehntausend gehören, um dann für uns die jeweils passende Verbrauchssteuer auszurechnen? Und was bleibt überhaupt als Verbrauchssteuer übrig, wenn die Mehrwertsteuer entfällt?

An diesem Punkt wird es in der Tat spannend, denn die Antwort auf diese letztlich entscheidende Frage konnte Herr Werner noch gar nicht kennen. Deswegen bleibt er in einer Lösung gefangen, die gar keine ist, weil sie vor allem den ohnehin schon Privilegierten nützt. Es gibt aber eine echte Lösung, nämlich eine progressive und echte Besteuerung des Verbrauchs auf der Grundlage erst heute vorhandener technischer Möglichkeiten. Ein einfaches und sozial gerechtes Steuersystem ist damit möglich geworden: ein System, das sich ganz dem Verdacht entzieht, nur bestehende Verhältnisse zu zementieren. Zum ersten Mal wird diese echte Besteuerung des Verbrauchs in Wohlstand und Armut beschrieben sowie auf meiner Website unter „Neuer Fiskalismus“.

So weit meine Antwort an Herrn Werner und an meine Kritiker. Ich habe in diesem Artikel von drei elementaren Verstößen gegen die Wahrheiten gesprochen – gewiss ein recht rüder Ton. Doch schlage ich meinen Kritikern vor, sich mit den Argumenten sehr sorgfältig zu befassen und erst dann den Ton zu bewerten, indem sie vorgetragen wurden.