Kunst ist – was  IHR NICHT  begreift!

Ein Versuch über Kunst und Kalkül

Was liegt der Kunst ferner als das ökonomische Denken, Synonym für die Niederungen des Nützlichen? Hier der Ausblick in eine höhere, schönere, in Geist, Wahrnehmung und Fühlen bewegte Welt, eine Welt, wie sie sein könnte oder sollte, ein kühner Entwurf des Geistes über die Zwänge des Gegenwärtigen hinaus, dort eine sklavische Verbundenheit mit den Verhältnissen, wie sie sind, und das Bestreben, diese mit abstrakten Formeln zu manipulieren. Und doch hängen beide auf unlösbare Weise zusammen. Kunst und Kalkül sind Zwillingsschwestern, der eine Bereich würde ohne den anderen nicht existieren, sowenig wie der Kopf ohne den Körper. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein – eine uralte Weisheit -, aber ohne Brot würde er gar nicht leben.

Kunst und Kalkül

Drücken wir es etwas drastischer aus. Der Mensch ist, ob er will oder nicht, zuallererst einmal ein Banause, der den größten Teil seines Denkens auf das eigene Überleben richtet, Überleben innerhalb der Natur und vor allem innerhalb von Seinesgleichen, die ihm so oft wie ein Rudel Wölfe erscheinen. Dieser kunstferne Überlebenskampf trifft nicht nur auf die Subsahara-Staaten Afrikas zu, wo der Hunger endemisch ist, sondern ebenso auf die reichen Länder des Norden, wo Verfettung zur Volkskrankheit wurde und die Schädigung der Natur das Überleben auf dem Planeten in Frage stellt. Zwar gehen wir bei uns längst nicht mehr an Hunger zugrunde, aber wir können durchaus an falschen Kalkülen scheitern. Denn in den hochkomplexen Risikogesellschaften des 21. Jahrhunderts ist das Überleben keineswegs besser gesichert als vor zehntausend Jahren bei Jägern und Sammlern. Wohl zu keiner früheren Zeit war „das System“ so leicht aus den Angeln zu heben. Ein wochenlanger Streik der Müllarbeiter wie in Neapel, das Misstrauen der „Märkte“, ein Run auf die Banken, eine Cyberattacke gegen die Energieversorger oder die Zerstörung der Ozonschicht über unseren Köpfen können sich zur existenziellen Bedrohung auswachsen. Die Niederungen des Nützlichen, die unsere Lebensgrundlage bilden, sind kein Betonfundament. Sie sind ein Moor, auf dessen Planken wir uns immer unsicherer und mit ängstlicher Vorsicht bewegen.

Kunst als sakraler Raum

Und dennoch: Das Kalkül ist dem Menschen nie als Selbstzweck erschienen. Warum hätte er sonst immer erneut die bohrende Frage gestellt, die Frage nach dem Sinn, die seine ganze bezeugte Geschichte begleitet? Kunst war eine Antwort auf diese Jahrtausende in ihm bohrende Unruhe. Sie rückte die Perspektive zurecht. Kunst ist nicht weniger als der grandiose, utopische und tollkühne Versuch, sich von allen Zwängen des bloß Nützlichen zu befreien. Kunst schafft einen anderen, einen sakralen Raum – ganz gleich, ob der jeweils historisch damit verbundene Sinn uns noch etwas sagt oder nicht. Der Stephansdom ist auch dann noch ein heiliger Ort, wenn ein Atheist ihn betritt, der Airavateshvaratempel in Darasuram (Indien) überwältigt wie eine überirdische Vision auch jene Menschen, die sich nichts aus vierarmigen Gottheiten machen, die entrückende Transzendenz der beiden Flügelmoscheen links und rechts des Taj Mahal bleibt auch für Menschen ein Wunder, die den Koran niemals gelesen haben. Der Hinokihain rings um die Schreine von Ise macht auch den noch zum Gläubigen, den die Geschichte von Amaterasu no Mikami ganz ungerührt lässt. Und wer würde nicht – verzaubert von Schuberts Deutscher Messe – auch dann noch eine Reise in eine höhere Welt antreten, wenn er bei anderen Gelegenheiten scheu vor dem Gespräch mit einem Priester zurückweicht, der seinen Gott im Handgepäck mit sich führt?

Die Vision jenseits der Maske

Der tiefste Sinn der Kunst besteht doch wohl nicht darin, den Menschen einer bestimmten Ideologie und deren Machtansprüchen zu unterwerfen, er zielt vielmehr auf eine Befreiung von Macht und Ideologie. Diese bilden immer nur zeitgebundene Masken, durch die sie ihre Botschaften vermittelt. Denn erst die Kunst schafft einen sakralen Raum jenseits allen Kalküls, einen Raum, den alle Menschen gleich welcher ideologischen Prägung auf Anhieb erkennen. Sie können darauf nach Kreuzfahrer-Manier mit Wut reagieren, indem sie die Stätten der Ungläubigen vernichten, aber sie können nicht leugnen, dass sie selbst von Schaudern der Verehrung und des Staunens erfüllt sind. So beschreibt Bernal Diaz del Castillo seine Ergriffenheit, als er im Gefolge von Hernán Cortéz in die Hauptstadt der Azteken einrückte: In seinem ganzen Leben habe er etwas so Großartiges niemals gesehen: eine Vision aus monumentalem Stein und Gärten und Wasser. Diese Vision hielt allerdings dem Ansturm der Spanier nicht stand. Kunst ist gebrechlich, sakrale Räume sind leicht zu entweihen. Es siegte das Kalkül der Eroberer. In kurzer Zeit hatten die spanischen Horden die Stadt dem Erboden gleichgemacht.

Kunst und Kalkül: die Transzendenz jenseits des Nützlichen und die Überwindung der Daseinszwänge durch die Berechnungen der Vernunft – das sind und bleiben die beiden einander gegenüberstehenden Pole, zwischen denen nur eine einzige lebende Spezies sich voller Unentschlossenheit hin- und herbewegt: der Mensch, und er auf extreme Weise. Man trifft den Typus des besessenen Rechners, den reinen Formelmenschen und seinen ökonomischen Avatar, den engstirnigen Börsen – und Zahlenbonzen. Die Frage nach dem Sinn, dem Wert für Gemeinschaft und Leben, tritt hier ganz in den Hintergrund. Solche Menschen handeln als Marionetten im Dienst des Kalküls: wertfrei, unheimlich und gerade heute zerstörerisch.

Eine kämpferische Beziehung

Im Gegenlager der Kunst steht dem sinnfernen Formelmenschen der abgehobene Phantast gegenüber, für den die Kunst kein sakraler Raum, sondern vor allem das eigene oft maßlos aufgeplusterte Ego ist. Unter Künstlern der mitlaufenden Art gehört es zum guten Ton – oder sagen wir eher zum geistigen Snobismus – die Nase über nutzenhörige Existenzen zu rümpfen, so als brauchte man sich selbst und den eigenen Produktionen nur das Etikett „Kunst“ aufzukleben, um sich auf eine höhere Ebene zu katapultieren. Das jedoch ist ein Irrtum. Ich sagte es schon: Kunst und Kalkül, Kunst und Kommerz liegen ganz nah beieinander. Sie sind Zwillingsgeschöpfe, auf einander existenziell angewiesen. Erst in der Dialektik ihrer kämpferischen Beziehung gewinnen sie ihr je eigenes Profil. Es ist eine Ausnahme und ein seltener Glücksfall, wenn Kunst sich einmal wirklich von allen Zwängen befreit und uns wie die Offenbarung einer anderen Welt erscheint!

Das war schon immer so. Kunst stand im Dienst der Macht, mochte sie nun Fürst oder Priester heißen. Durch diese Maske drang ihre Verkündung. Das Mahabharata besingt die Mächtigen seiner Zeit, die Ilias ist eine Hymne auf blutige und unbarmherzige Herren. Deutschlands geistige Blüte ereignete sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts in der Atmosphäre einer wetteifernden Kleinstaatlichkeit. Die unglaubliche Entfaltung von Glanz und Schönheit an den Höfen der Renaissance war nahezu ausschließlich Auftragskunst. Jeder Hof wollte sich mit Geist und Pracht vor den Rivalen auszeichnen. Wehe dem Künstler, der es sich mit der Kirche oder den Fürsten verdarb! Es galt einen Glauben bzw. einen Herrn zu verherrlichen und möglichst für die Ewigkeit zu glorifizieren. Das Nützliche wurzelt in den Zwängen des Überlebens, und Macht ist seine treibende Kraft. Der jeweilige Herrscher verfügte souverän über den Reichtum seines Staates. Seit frühesten Zeiten ist Kunst daher eine Magd im Dienste der Herrschaft gewesen. Der Künstler musste sich fügen. Wollte er bis in den sakralen Raum vordringen, dann musste er die Botschaft hinter der Maske verbergen!

Kunst und Kalkül waren auf Gedeih und Verderb, man darf wohl sagen, in Hassliebe, miteinander verbunden. Wenn die Liebe dabei überwog, dann sind, so scheint es, die größten Werke entstanden. Pergolesi hat an den katholischen Gott von Herzen geglaubt, und deshalb gelang ihm das tief bewegende Stabat Mater. Bach hat seinen protestantischen Gott wirklich angebetet, deshalb hinterließ er die Matthäus-Passion als ein Werk der religiösen Entrückung. Homer hat seine Helden Agamemnon, Achill und Hector wirklich wie höhere Wesen verehrt, nur deshalb hat er in überschwänglichen Wendungen, Bildern und Metaphern ihre res gestae beschworen. Die Maler, Steinmetze, Architekten von Chartres waren wirklich davon überzeugt, im Auftrag des Heiligen Geistes zu handeln, nur deshalb haben sie uns ein Werk hinterlassen, das die unmittelbare Übertragung von Musik in die Formen des Sichtbaren ist. Wann immer eine solche Verbindung von Macht und Kunst wirklich glückte, hat die Kunst die Maske abgeworfen. Auf seltsame Art wächst sie dann über ihre eifernden Auftraggeber und deren ideologische Enge hinaus. Sie wird zu einer Offenbarung für alle Menschen, weil sie den allen gemeinsamen sakralen Raum beschwört, eine höhere Realität jenseits allen Kalküls und aller Nützlichkeit. In Japan oder Israel, wo sich nur verschwindende Minderheiten zum Christentum bekennen, werden Menschen genauso wie wir von Pergolesi und Bach verzaubert.

Gestutzte Flügel

Phantasie muss Flügel haben, um Grenzen zu überwinden. Ist ihr Körper mit Blei beschwert, sehen wir sie hilflos und kläglich am Boden kriechen. Wir leben heute in einer wenig begünstigten Zeit. Mit Kunst hat der Durchschnittsbürger nur noch in Gestalt von Design und Werbung zu tun. Design ist Auftragskunst von höchster Bedeutung. Es trägt dazu bei, die Dinge des Alltags, die andernfalls nicht mehr als nur ihren vordergründigen Zweck bekunden, auf eine höhere Ebene zu heben. Das Element der Schönheit, des Ansprechenden, des vielleicht intellektuell oder sinnlich Herausfordernden tritt hinzu, also eine im bloß Verwertbar-Nützlichen nicht enthaltene Dimension, die dem Nützlichen im Gegenteil ganz und gar fremd ist. Das ist wie ein versuchter Sprung in die Transzendenz. Das Design gehört zweifellos ebenso zur Kunst wie die Leistungen eines Piero della Francesca, der im Dienste seines Herrn den Palast von Urbino verschönerte. Doch es macht einen gewaltigen Unterschied, ob ein Künstler für einen Herrn tätig ist, der in der Vergeistigung der Macht durch die Kunst seinen eigentlichen Auftrag erblickt, oder ob ein Designer für eine Firma von Haarfönen, Küchenmöbeln oder Motorrädern beschäftigt wird. Auf beklemmende Weise fehlt derartigen Geräten der Bezug zu höheren Zwecken. Im Kosmos eines höheren Sinns haben sie keinen Platz. Man kann sie verschönern, gewiss, sie für das Auge gefälliger machen. Das ist aber auch schon alles. Mehr als alle Künstler früherer Zeiten ist der Designer ein Sklave der Macht. Sein wirklicher Auftraggeber ist der Geschmack der Masse, der sich im Verkaufserfolg niederschlägt. Das ist eine Fessel, aus der er sich nur um den Preis des eigenen Misserfolgs löst.

Befreiung und Vertiefung

Es scheint eine Eigenart der europäischen Neuzeit zu sein, dass Kunst in zwei Richtungen auseinander driftet: eine Kunst der Befreiung und Abwehr auf der einen, eine Kunst der Aufdeckung und Vertiefung auf der anderen Seite. Befreiung ist ein Akt des Protestes gegen tote, erstarrte, in Sinnlosigkeit abgeglittene Formen. Sie ist Rebellion gegen alles, was jeweils als unecht, abgelebt, verlogen empfunden wird. Wenn wir in sinnferner Zeit den Sinn nicht mehr finden, dann können wir immer noch den schlechten Sinn in schlechten Formen bloßstellen. Das leistet die Kunst der Erschütterung und Befreiung. Nach den Schlächtereien des ersten Weltkriegs schien alle Berufung auf akademische Kunstübungen als leer und erheuchelt, ja als obszön. In ihrem Aufschrei ist keine Kunst so weit wie Dada gegangen. Vor dem Hintergrund des europäischen Bürgerkrieges von 14-18 waren aller Sinn, alle versöhnliche Lebensdeutung, alles Aufbauen zu Recht verdächtig. Sie waren zum Gegenstand beißenden Spotts geworden. Und so verfuhr man nach dem Motto Nietzsches, des größten Ikonoklasten des 19. Jahrhunderts: „Was fällt, das soll man auch noch stoßen.“ Einer faszinierten und zugleich angewiderten Welt präsentierte Marcel Duchamps eine bärtige Mona Lisa und eine Kloschüssel als Kunst – letzteres ein Objekt, das allein dadurch zur Kunst werden konnte, dass man das Etikett „Kunst“ darauf drückte oder das Objekt in ein Museum schaffte. Ausgeweidete Matratzen, ein Stück Filz oder Essensrückstände auf einem schmutzigen Tisch konnten von da an in den Rang der Kunst avancieren, allerdings unter der nun ganz und gar unerlässlichen Bedingung, dass man sie ausdrücklich dazu erklärte und sie unter entsprechenden Schutz gestellt wurden, andernfalls hätte sie die Reinmachefrau in den Müll geworfen.

Die Kunst der Befreiung will Denkmuster aufbrechen, gewaltsam schlägt sie dabei auf Köpfe ein, vor allem die Köpfe derjenigen, die sie verachtungsvoll in das Lager der heillosen Banausen verstößt. Diese Kunst geht einen gefährlichen Weg, denn der Unterschied zu Müll oder Wahnsinn ist dabei hauchdünn geworden – bisweilen ist er überhaupt nicht vorhanden. Eine Frau, die sich in aller Öffentlichkeit selbst befriedigt, landet in der Psychiatrie. Wird das Ereignis hingegen vorher als Kunst deklariert, finden sich glatzköpfige Professoren, tiefgründige Philosophen, allerlei Quacksalber und ein sensations- oder auch sonst wie lüsternes Publikum ein, um in letzter Ergriffenheit das Ganze als „Ereignis“ zu feiern!

Der Dada stammelte Widersinn, Unlogik und Fäkaliensprache – und erklärte das alles zur Kunst. Das schien immer noch ein besseres Resümee für eine verrottete Zeit zu sein als irgendeines der formerstarrten Scheinrituale, welches die Lüge der heilen Welt beschwor. Kunst der Befreiung ist Aufschrei und Protest. Sie hat ihren Sinn, wenn solcher Protest notwendig wird. Aber sie ist gewiss nicht die Kunst, die uns am meisten Bewunderung abnötigt Wäre es so, dann würden wir den Schmerz zu einer Quelle von Freude machen.

Kunst der Vertiefung

Die Kunst der Befreiung und Abwehr deckt Lüge und Selbstbetrug auf, wie ein reinigendes Gewitter kann sie für frische Luft und Aufatmen sorgen, aber sie ist letztlich aus dem Unglück geboren und bleibt darin stehen und stecken, wenn ihr nicht der Sprung in die Kunst der Vertiefung glückt. Jacob Burckhardt hat das Gemeinte im Hinblick auf die Kunst der Renaissance angedeutet. Die in endloser Vielfalt gestalteten Madonnen, so sagte er sinngemäß, seien nicht das am wenigsten Geglückte, sondern das Beste, was jene Epoche hervorgebracht habe. Immer aufs Neue hätten die Künstler sich daran versucht, im verklärten Gesicht einer Frau die Transzendenz des Geistigen durchschimmern und sichtbar zu machen. Diese Suche kann man mit einem schon oben gebrauchten, unserer Zeit merkwürdig fremden Begriff umreißen. Es war die zugleich religiös und sinnlich gefärbte Liebe zu dem, was sie sahen und fühlten, welche eine solche Kunst der unendlichen Vertiefung ermöglichte. An dieser Kunst durfte und sollte man sich erfreuen – das war durchaus keine banausische Einstellung. Das war alles anderes als eine Kunst des Protestes. Es war Kunst des Aufbruchs, einer lebensbejahenden Welt- und Bewusstseinserweiterung!

Die Kunst des rostigen Nagels

Warum mutet so vieles in der Kunst unserer eigenen Zeit demgegenüber so freudlos, oft geradezu kläglich und nichtssagend an? Warum ist lähmende Gleichgültigkeit ihr gegenüber zur vorherrschenden Einstellung geworden? Da gibt es Künstler, die irgendwo zwischen Mais und Weizen einen Nagel, eine Leiter oder einen Stuhl in die Landschaft stellen. Die Vorbeifahrenden schütteln den Kopf und fahren weiter. Wieder so eine Art Spinnerei! Köpfschütteln ist keine Erregung, sondern nur befremdete Gleichgültigkeit. Wovon will diese Kunst befreien? Welche Botschaft geht davon aus? Die Kloschüssel war ein Aufruf gegen die Verlogenheit einer ganzen Epoche, aber die Leiter in der Landschaft macht weder warm noch kalt. Bei einem Stuhl oder einem rostigen Nagel im Landschaftsbild muss jemand daneben stehen, die Sache zur Kunst und dann ihren Sinn erklären. Dann verstehe ich das und werde als Kenner gewürdigt, oder ich verstehe es eben nicht – und habe mich dadurch als kunstfernen Banausen geoutet. Betrete ich hingegen Malraux` Musée imaginaire, das die Kunst von Jahrtausenden von China bis zu den Mayas vereint, dann braucht sich niemand erklärend neben mir aufzupflanzen. Ich bin auch so hingerissen, angeweht von höherer Eingebung, auch wenn ich nichts über die Maya, den Konfuzianismus, die Hindus, Byzanz oder die alten Griechen weiß. Ich erlebe Kunst, ohne jede Erklärung, ich erlebe sie mit jener Art von sakralem Befinden, das sich angesichts eines rostigen Nagels partout nicht einstellen will.

Gleichgültigkeit ist die vorherrschende Reaktion gegenüber der Kunst des verrosteten Nagels – vernichtende, tötende Gleichgültigkeit. Solche Kunst ist ein Nichtereignis, das der künstlichen Aufwertung durch allerlei philosophische Besserwisser, raffinierte Wortemacher und andere Esoteriker bedarf, um überhaupt wahrgenommen zu werden. Ihre Urheber ahnen das, sie selbst leiden ja ganz besonders an diesem Mangel. Daher verlassen sie sich auf die einschlägigen Techniken der Werbung. Will niemand protestieren, dann erfindet man den Protest eben selbst. In den frischen Beton, der dem rostigen Nagel, der Leiter oder dem ins Weizenfeld gepflanzten Sessel als Fundament dienen soll, gräbt der Künstler in aller Heimlichkeit und mit eigener Hand den Protest der Banausen ein, zum Beispiel den empörten Satz: „Was soll denn bloß dieser Scheiß, ihr Arschlöcher!“ Er triumphiert, nun hat er sein Werk aus der Gleichgültigkeit erlöst. Bei der Eröffnung nimmt er die Haltung des Märtyrers an, der wie ein moderner David siegreich die Goliathsdummheit der ewigen Hinterwäldler bekämpft:

Ihr Banausen, ihr Spießer: Kunst ist, was ihr nicht versteht!

Das ist nun aber: Kunst der Ohnmacht,

Kunst in der Sackgasse. Wenn der Künstler selbst für den Protest sorgen muss, von dem er die eigene Bedeutung ableitet, dann hat er sich von seiner Zeit sehr weit und von der Gesellschaft ganz abgekoppelt. Kunst wird zur Selbstbefriedigung, ein Abgleiten in die geistige Onanie und den Selbstbetrug.

Dabei ist der Künstler, der sich nicht in dieser Sackgasse verrennt, vielleicht der einzig ganz und gar freie Mensch. Niemand darf ihm eine Grenze ziehen. Kunst ist nie ganz auf den Begriff zu bringen, das hieße sie in ihrer Freiheit beengen. Kunst kann sich als reine Tollheit manifestieren, wie im Taugenichts, bei Alice in Wonderland oder in der kindlichen Allwissenheit eines Jorge Luis Borges. Sie kann den Sinn beschwören und doch die Antwort verweigern, wie eine geheimnisvolle Kuppel mit Reptilienhaut, die – mitten in einem Maisfeld mitten in der Provinz errichtet – Transzendenz als dünnes Licht von oben herabrieseln lässt. Die Verweigerung einer Antwort auf die drängende Frage nach Sinn wird zur Aufforderung nach dem Sinn zu suchen. Stehen wir nicht wieder in einer Zeit, wo diese Aufforderung immer dringlicher wird?

Sinn und Werte rücken erneut in den Vordergrund

Mit dieser Frage komme ich zurück zum Ausgangspunkt: nämlich zu Kunst und Kalkül, Kunst und Kommerz. Das Kalkül bildet in dieser Dichotomie die scheinbar verlässliche und doch die eigentlich gefährliche und gefährdete Seite. Es ist die rein technische, manipulierbare Dimension, der durch erschreckenden Missbrauch der Sinn abhanden zu kommen droht. Unter allen Gesellschaftsordnungen hat die Eigentumsgesellschaft die effizienteste jemals praktizierte Blaupause für die allgemeine Bereicherung gefunden. Kein anderes Gesellschaftssystem vermag im Idealfall alle Begabungen so erfolgreich zum Wohl des Ganzen zu nützen. Doch diese Blaupause war und ist stets gefährdet, da sie den Siegern im Wettbewerb mit der Zeit auch die größte ökonomische und politische Macht verleiht. Dadurch aber schaltet sie die individuelle Begabung wiederum aus und dient schließlich nur noch der Bereicherung einer verschwindenden Minderheit: Sie entartet zum rabiaten Kapitalismus. Das System verwandelt sich immer mehr in eine sinnlos ratternde Maschinerie, die den Menschen als bedrückendes Gefängnis erscheint, ein Gefängnis, das einem unheimlichen Automatismus gehorcht statt einem demokratisch ausgerichteten Wollen. Mit anderen Worten: Das Kalkül hat sich von den Menschen gelöst. Es verselbständigt sich, wird zu einem fremden Gegenüber, wird zu den „Märkten“, die als unbezähmbare Macht den einzelnen auf ein Nichts reduzieren.

Zeichen des Wandels

Mit jeder großen Krise stellt sich erneut die Frage nach Sinn und Werten. Und hier hat Kunst ihre eigentliche Aufgabe zu erfüllen. Ihr muss es wieder gelingen, das Fenster zu den sakralen Räumen zu öffnen. Ihre Aufgabe ist es, den Panzer der Gleichgültigkeit zu durchbrechen. Das dem Menschen angeborene Streben nach einer Transzendenz jenseits des Nützlichen ist allein schon Antwort, die aber in Zeiten wie dieser zu einer Suche nach der Erhöhung und Intensivierung des Lebens durch Gemeinschaft, durch Schönheit, durch den offenen Blick für alle Anregungen werden muss. Kunst, die uns in ihren Bann zieht, verblüfft durch Können, durch einen veränderten Blick auf die Dinge, selbst noch im Unscheinbaren entdeckt sie das Wesentliche und manchmal das Wunder. Über die bloße Befreiung und den Protest geht sie hinaus und sucht wieder die Tiefe. Solche Kunst bewirkt eine Revolution in den Köpfen. Sie überwindet Kalkül und Kommerz, weil sie zeigt, wozu und warum der Mensch lebt. Nur eine Kunst der Tiefe und Hoffnung kann die von der Krise bewirkte Leere ausfüllen.

Das Kalkül unterwirft Mensch und Natur der Macht. Es uniformiert, richtet ab, nimmt ihnen die Spontaneität, damit sie unseren Zwecken zu Diensten sind. Wirtschaft ist eine normative Veranstaltung, bestehend aus einem fast unüberschaubaren Korpus von Vorschriften und Regeln, die weltweit in den dazu vorgesehenen Ausbildungsstätten gelehrt und antrainiert werden. Wirtschaft ist ein System der Abrichtung von Mensch und Natur im Dienste einer möglichst effizienten Sicherung der materiellen Basis. Kunst dagegen lässt sich nur im Hinblick auf das darin genutzte Können lehren, ihr eigentlicher Kern entzieht sich der Erlernbarkeit, weil sie nie fertige Sprache ist, sondern eine Sprache, die immer von neuem gefunden wird: durch Hinhören, Hinsehen, Hinspüren – Akten der mystischen Versenkung in das Geheimnis der Dinge. Kunst (der Tiefe) bringt Dinge und Menschen zum Sprechen, aber mit Worten, die wir jedes Mal wie das erste Mal  hören. Große Kunst ist Erschütterung, die gar nicht direkt von Sinn und Werten zu sprechen braucht, um doch unmittelbar auf diese Grunddimension hinzuleiten.